Das Porzellanzimmer
Was für eine bewegende Geschichte! Der Roman „Das Porzellanzimmer“ von Sunjeev Sahota spielt im indischen Punjab der zwanziger Jahre, wo die fünfzehnjährige Mehar eine vor Jahren arrangierte Ehe eingehen muss. Gemeinsam mit zwei weiteren jungen Frauen lebt sie in dem sogenannten Porzellanzimmer. Tagsüber erfüllen die Frauen die Pflichten auf dem Hof. Nachts treffen sie ihre Ehemänner, denn sie sollen der Familie männlichen Nachwuchs bescheren. Der Beischlaf wird von Mai dirigiert und darf nur im Dunkeln stattfinden, weshalb die Frauen nicht wissen, mit welchem der Männer sie verheiratet sind.
„Mehar ist keine so fügsame Fünfzehnjährige, dass sie nicht herauszufinden versucht, welcher der drei Brüder ihr Ehemann ist. Bereits morgens nach der Hochzeit und obwohl ihre Hände vor Nervosität zittern, gibt sie zu den Zwiebelringen, die sie als Beilage essen, unterschiedliche Mengen an Zitrone, Knoblauch und Gewürzen und versucht dann, den besonderen Geruch an dem Mann zu erkennen, der nachts zu ihr kommt, unsichtbar in der Dunkelheit.“
Mehar, Gurleen und Harban führen ein Leben fernab jeder Freiheit, dass ihnen von Mai, ihrer distanzierten, hartherzigen Schwiegermutter, diktiert wird. Baumwolle pflücken, Dung sammeln, Asche schaufeln, Mai die Hühneraugen entfernen, melken, kochen, den Hof fegen, Kühen beim Kalben helfen … Sie sind Sklavinnen. Vor Tagesanbruch sind die Mädchen auf den Beinen. Bei Sonnenuntergang verschwinden sie im Porzellanzimmer. Dann passiert es, dass Mai einer von ihnen auf die Schulter tippt. Die Auserwählte verschwindet in einem Hinterzimmer. Dort wartet sie auf einen der Brüder.
„Als sie (Mehar) aufblickt, betrachtet Mai sie schweigend, mit einem grässlich belustigten Gesichtsausdruck im Gesicht. […] „Bist du sicher, dass ich jedes Mal denselben Sohn zu dir schicke?“ Mais Miene weicht lautem Lachen, „Wie du guckst“. Sie streicht Mehar übers Haar, eine Berührung, die Mehar nicht ausstehen kann, die sich alles andere als mütterlich anfühlt. […] „Sei froh, dass du keinen Schwiegervater hast, der dich jede Nacht am ganzen Körper betatscht und befingert.“
Als sich Mehar in einen der Brüder verliebt, nimmt die Geschichte eine tragische Wendung. Die Liebenden planen die Flucht …
In einem zweiten Erzählstrang wendet sich der Autor Sunjeev Sahota dem Urenkel der Protagonistin Mehar zu. Seine Eltern schicken den jungen Mann in den Neunzigern nach Indien, um von seiner Drogensucht loszukommen.
„Deine Mum und ich haben uns überlegt, du könntest deinen Onkel besuchen. In Indien. Etwas Abstand von allem hier gewinnen. […] Wir können dich nicht zwingen. Jeder sagt mir, dass der Entschluss von dir kommen muss.“
In einem erbarmungswürdigen Zustand kommt Mehars Urenkel in Punjab an, wo ihn die Familie seines Onkels Jay aufnimmt.
„Ich hatte stetig drei Viertel der Flasche getrunken, als Jai wortlos den Whisky vom Tisch nahm und damit nach unten verschwand. Ich hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Als er zurückkam, zog er seine Jacke über und sah mich traurig, enttäuscht an. […] Ich hatte seit vierundzwanzig Stunden keinen Heroin gehabt. Ich hatte riesige Angst vor dem, was vor mir lag.“
Onkel Jays herrische Frau Kuku begegnet dem Besuch aus England mit gemischten Gefühlen. Für sie kann der zitternde, schwitzende, durch Fieberschübe geschüttelte junge Mann nicht früh genug wieder verschwinden. Die Situation eskaliert, als der Neffe nicht gut auf Kukus Sohn Sona aufpasst.
Seine restliche Zeit in Indien verlebt Mehars Urenkel auf der mittlerweile verlassenen Farm der Familie. Dort war seine Urgroßmutter einst im Porzellanzimmer festgehalten worden. Der junge Mann beginnt das Haus instand zu setzen, setzt sich mit der Geschichte seiner Urgroßmutter auseinander und bewegt sich Schritt für Schritt aus dem Sumpf seiner Drogensucht.
Denken Sie, liebe Leserschaft, nachdem Sie meinen Text bis hierhin gelesen haben, dieses Buch könnte eine reine Liebesschnulze sein, dann irren Sie sich. Nein, eine Schnulze ist es sicher nicht. Der Roman „Das Porzellanzimmer“ ist eine leichtfüßig erzählte Geschichte über kulturelle Zwänge und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das politische Leben Indiens von Verfassungsreformen der britischen Kolonialherren und dem nationalen Freiheitskampf geprägt. Immer wieder stellt der Autor Sahota Bezüge zu der gesellschaftlichen Situation her. Die Unterdrückung Mehars und ihrer Leidensgenossinnen schildert Sahota eindringlich und unpathetisch. Für mich weit weg von Kitsch. Zumal es Realität ist, dass heute noch in Indien und an vielen anderen Orten der Welt, Mädchen zum Heiraten gezwungen werden und ihnen eine eigenständige Existenz verwehrt wird.
Mir hat dieses Buch gefallen. Sunjeev Sahota ist einer, der das Geschichtenerzählen wahrhaft beherrscht – zu schade, dass „Das Porzellanzimmer“ seine einzige Veröffentlichung in deutscher Sprache ist. Mich dürstet nach mehr von Sunjeev Sahota:)
Über den Autor
Sunjeev Sahota, geboren 1981, ist ein britischer Schriftsteller. Seine Großeltern väterlicherseits sind 1966 aus Punjab in Indien nach Großbritannien migriert. Er veröffentlichte die preisgekrönten Romane „Ours are the Streets“ (2011) und „The Year of the Runaways“ (2015), letzterer stand auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2015 und wurde 2017 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet.
Sahota unterrichtet Kreatives Schreiben an der Durham University und lebt in Sheffield. Das Porzellanzimmer basiert lose auf seiner eigenen Familiengeschichte.
Buchinformation
Sunjeev Sahota „Das Porzellanzimmer“
Carl Hanser Verlag
https://www.hanser-literaturverlage.de/autor/sunjeev-sahota/
ISBN 978-3-446-27388-7
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