Dschinns
Wer meinen Blog kennt, kennt meine Vorliebe für Familiengeschichten. Familien sind der Schmelztiegel für all das, was uns menschlich macht: Liebe, Argwohn, Eifersucht, Vertrauen, Hoffnung, unerfüllte Erwartungen … Familie kann Sehnsuchtsort und Gefängnis sein. Familie haben wir alle und die wenigsten Familiengeschichten sind frei von Irritationen, kleinen oder großen Geheimnissen und Unausgesprochenem. Gäbe es sie, es würde niemand ein Buch darüber schreiben.
Vor einigen Wochen ist mir der Roman „Dschinns“ von Fatma Aydemir empfohlen worden. Aydemir beschreibt in ihrer Geschichte die Konflikte in einer Familie, die aus der Türkei nach Deutschland ausgewandert ist.
Vater Hüseyin kommt aus einem Bergdorf und geht nach Deutschland, weil man dort Arbeiter braucht und er seine Familie versorgen muss. Der Roman spielt Anfang der Neunzigerjahre, und für die vier Kinder der Familie Yılmaz ist Deutschland ihr Zuhause geworden – mehr oder weniger. Die Eltern sind in Deutschland nie wirklich heimisch geworden.
Hüseyin, der nach Jahrzehnten Schichtarbeit in Frührente geht, kauft in Istanbul eine Eigentumswohnung.
„Du hörst den ersten Abendezan auf dem Balkon deiner Wohnung, deiner geräumigen 3+1-Zimmer-Wohnung im vierten Stock, für die du fast dreißig Jahre gearbeitet und gespart hast, während du vier Kinder aufgezogen und deiner Frau ein zwar bescheidenes, aber nie notdürftiges Leben geboten hast.“
Während Hüseyin für die Zukunft der Kinder im Schichtdienst schuftet, funktioniert seine Frau Emine, die von einer großen Traurigkeit eingenommen ist. Eine Mutter, die unter Depressionen leidet, mit denen sie nicht umgehen kann, weil sie nicht erkennt, dass sie krank ist.
Die Kinder der Familie Yilmaz und das Unausgesprochene
Sevda, die älteste Tochter, hat sich konsequent zur Restaurantbesitzerin hochgearbeitet. Hakan, ein netter, halbkrimineller Typ, der vieles begonnen und nichts zu Ende gebracht hat. Er schlägt sich mehr schlecht als recht durch. Peri, die als Erste in der Familie studiert. Und Ümit, der Jüngste, der sich beim Fußballtraining in einen Freund verliebt.
Und da ist jede Menge Unausgesprochenes zwischen den Familienmitgliedern. Dinge, die nicht gesagt werden, aus Furcht, die Distanz untereinander könnte noch größer werden.
Als Hüseyin plötzlich stirbt, eilt die Familie nach Istanbul, um bei der Beerdigung von Hüseyin dabei zu sein. Sie alle treffen sich in der neuen Wohnung, Hüseyins Lebenstraum, dem sie mit Skepsis und Beklommenheit begegnen. Das Ungesagte steht spürbar zwischen den Familienmitgliedern.
„Vier Zimmer, die an Erschöpfung und Tod erinnern, und sonst an nichts.“
Fatma Aydemir schildert in jedem Kapitel die Perspektive eines Familienmitglieds. So gibt sie den einzelnen Familienmitgliedern eine Bühne. Die Sichtweisen und Emotionen der Protagonisten stehen gleichberechtigt nebeneinander und verweben sich.
Peri, die in Frankfurt studiert, merkt, dass ihr Vater in ihrem Leben schon lange keine Rolle mehr spielt. Ümit traut sich nicht, in der Familie über seine Gefühle für Jungs zu sprechen. Hakan hat die Bindung zum Vater verloren. Er genügt dessen Erwartungen nicht und hadert mit der Unterwürfigkeit, mit der Hüseyin deutschen Amtsträgern begegnet.
Sevda hat schon lange keinen Kontakt mehr zu den Eltern, weil sie ihr die Unterstützung verweigern, als sie ihren Mann verlassen will. Nach jahrelangem Schweigen spricht sie am Tag der Beerdigung zum ersten Mal wieder mit ihrer Mutter. Das Gespräch dreht sich im Kreis. Beide Frauen können nicht aus ihrer Haut: Emines Geschichte ist tragisch und erklärt, warum sie ihre Tochter nicht unterstützt hat. Doch Sevda ist nicht in der Lage, ihr das zu verzeihen. Als Emine ein streng gehütetes Familiengeheimnis lüftet, verliert Sevda die Fassung.
„Ich verstehe das nicht“, murmelt Sevda schließlich und lässt ihre Schultern zittern. „Ich versteh das nicht!“, ruft sie lauter. Ihre Stimme klingt schrill. „Ich habe selbst zwei Kinder auf die Welt gebracht, und ich kann nicht verstehen, wie man so etwas tun kann.“
Aydemir beschreibt die Situation aus Emines Perspektive und wählt als Erzählstimme – im Gegensatz zu den anderen Kapiteln – die direkte Ansprache:
»Ich bin der Widerspruch zwischen dem Bild, das du von dir selbst hast, und dem Gesicht, das du den anderen zeigst.[…] Ich bin einfach nur die Stimme in deinem Kopf, Emine. Ich bin nichts ohne dich. Also sag mir, wer bist du?«
Es ist ein fürsorgliches Du, dass die Frau, die keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen durfte, sanft begleitet.
»Dschinns« ist kein unpolitischer Roman
»Dschinns« ist kein unpolitischer Roman, und die Migrationserfahrung der Familie Yilmaz spielt durchaus eine Rolle. Fatma Aydemir hat die Handlung Anfang der Neunzigerjahre angesiedelt – der Nachwendezeit und der Zeit erster rassistischer Brandanschläge in Deutschland. Im Buch findet dieses wenig einladende Deutschland im Hintergrund statt. Die gesellschaftlichen Strömungen und Anfeindungen der Zeit gehören zur Lebenswirklichkeit der Familie Yilmaz. Sie prägen die Familienmitglieder in ganz unterschiedlicher Weise und beeinflussen das Verhältnis untereinander.
Trauer und Verlust
Für mich ist „Dschinns“ ein Buch über Trauer und Verlust in einer Familie, zwischen deren Menschen tiefe Gräben existieren. Ein berührender, realitätsnaher Roman. Wie endet dieses beeindruckende Buch, das mich gefesselt hat und das ich nur schwer aus der Hand legen konnte? Mich hat das Ende zum Nachdenken angeregt. – Das Ende ist alles andere als gut und nicht nur schlecht. Wenn mich ein Buch über die letzte Seite hinweg inspiriert, dann ist es für mich ein empfehlenswertes Buch.
Der Roman „Dschinns“ von Fatma Aydemir hat alles, was ein Roman braucht. Er fasziniert von der ersten Seite an, ist eindrücklich geschrieben und entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Nicht umsont war „Dschinns“ für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert.
Ach, übrigens: Wer bei dem Wort „Dschinn“ sofort an den Flaschengeist aus Aladin denkt, der liegt nicht falsch. Im muslimisch–orientalischen Kontext nach (vor-)islamischer Vorstellung ist ein Dschinn ein übersinnliches, ins menschliche Leben schädlich oder helfend eingreifendes Geisterwesen, das in aller Regel für den Menschen unsichtbar ist.
Über die Autorin:
Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie lebt in Berlin und ist Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. Bei Hanser erschien 2017 ihr Debütroman „Ellbogen“, für den sie den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Franz-Hessel-Preis erhielt. 2019 war sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah Herausgeberin der Anthologie „Eure Heimat ist unser Albtraum“. Ihr zweiter Roman Dschinns (Hanser, 2022) wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis und dem Preis der LiteraTour Nord 2023 ausgezeichnet.
Buchinformation:
Fatma Aydemir, „Dschinns“
Carl Hanser Verlag, München
ISBN 978-3-446-26914-9
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