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  • Gepostet am 16. Januar 2023

Lügen über meine Mutter

„Meine Mutter passt in keinen Sarg. Sie ist zu dick, sagt sie.“

Mit diesen zwei schlichten Sätzen beginnt Daniela Dröschers Roman „Lügen über meine Mutter“. Da ahnt die Leserschaft gleich zu Anfang, warum es geht: um Speckrollen und Kleidergrößen. Ich frage mich nach wenigen Seiten, ob ich ein Buch über eine Frau lesen möchte, die ihr Leben lang mit den Kilos kämpft. Aber da hat mich die Geschichte schon gepackt, denn sie ist viel
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Der Roman spielt Anfang der 80iger-Jahre in einem 500-Einwohner-Dorf im Hunsrück. Ela, die Ich-Erzählerin ist zu Beginn sechs Jahre alt und Einzelkind. Im Laufe des Buches wird sie noch eine Schwester bekommen, eine an Demenz erkrankte Großmutter gesellt sich zum Haushalt dazu sowie ein über mehrere Ecken verwandtes Pflegekind.

Elas Vater hat einen Job im Büro und leidet darunter, dass er in seiner Firma keine Karriere macht. Die Mutter arbeitet als Fremdsprachensekretärin, gegen den Willen des Vaters, dem die Berufstätigkeit seiner Frau nicht gefällt. Er schämt sich für den in seinen Augen viel zu ausufernden Körper seiner Frau und überträgt diese Scham auf die kleine Ela. Das Kind gerät dadurch in seelische Nöte, denn die Mutter ist für Ela mehr als nur ihre Kleidergröße, um die sich in der Ehe der Eltern alles dreht. Der Vater geht so weit, dass er die Figur seiner Frau – so aberwitzig es klingt – als Grund für sein eigenes Versagen vorschiebt. Der Vater gibt in seinem Heimatdorf den Gernegroß, eine dicke Frau passt da nicht ins Bild. Er macht – ganz ein Mann der Zeit und der Herr im Haus – den Körper seiner Ehefrau zu seinem Problem. Behandelt sie, als wäre sie sein Eigentum.

„Du und deine Ausreden. Damit ist jetzt Schluss“, erklärte mein Vater unbeirrt. Mit einem schnellen Griff fasste er in die Plastiktüte und zog eine Waage daraus hervor. […] „Ab jetzt wiegst du dich. Jeden Morgen. So, dass ich es sehe. Hast du gehört“.

Jeden Morgen muss die Mutter sich nun unter seiner Aufsicht wiegen und ihre Gegenwehr erlischt schnell. Als Frau in den 80er-Jahren und in einer wirtschaftlichen Abhängigkeit lässt sie es sich gefallen.

Elas Kindheit ist geprägt vom Streit zwischen den Eltern. Ihre Mutter will ein Diplom in Französisch machen, um bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Elas Vater sieht darin den Hebel, seine Frau endlich zum Abnehmen zu bewegen. Die Rechnung ist einfach: Ich erlaube dir den Kurs, wenn du ihn selber bezahlst und ordentlich abnimmst. Unterstützung erfährt Elas Mutter nicht von ihm. Als sie trotzdem mit der Fortbildung beginnt, kommt sie rasch an ihre Grenzen. Es fehlt die Zeit zum Lernen, sie ist mit dem zweiten Kind schwanger und muss sich um ihre an Demenz erkrankte Mutter kümmern. Der Vater plant derweil seinen ersten Skiurlaub. Zusammen mit zwei Firmenkollegen fährt er nach Kitzbühel.

Die bedrückende Familienatmosphäre wird verstärkt durch das Dorf, in dem sie wohnen.

„Als ich geboren wurde, stand für meinen Vater außer Frage, dass meine Eltern in sein Heimatdorf zurückkehren würden. Ich sollte nah an der Natur aufwachsen. Meine Mutter hat München geliebt. Sehr sogar. Man könnte also sagen: Der Preis für das Wohlbefinden meines Kinderkörpers war das Wohlbefinden ihres eigenen Körpers. Wenn das kein Drama ist, weiß ich auch nicht.“

Die kleine Familie zieht aufs Dorf, in dem die Mutter immer eine Fremde bleibt. Während der Vater den Dialekt spricht und schnell wieder sein altes, intaktes soziales Umfeld besitzt, bleibt sie meist allein zu Haus. Das Unglück der Mutter ist mit einer missgünstigen Schwiegermutter im Haus und einem Mann, der im Dorf zeigen will, wie weit er es gebracht hat, vorprogrammiert.

Immer wieder macht die Mutter Diäten – Weight Watchers, FdH, lässt sich sogar trotz Risiken einen Ballon in den Magen einsetzen – ohne Erfolg. Irgendwann ertappt Ela sie bei einer nächtlichen Fressattacke in ihrem Büro im Keller. Spätestens hier offenbart sich die Zerrissenheit des Kindes, denn plötzlich sieht es die Mutter mit dem kritischen Blick des Vaters. Ela empfindet Verachtung und Scham für ihre Mutter. Eine Scham, die für Ela auch in der Öffentlichkeit zum Problem wird.

Es macht wütend, von einem Patriachen zu lesen, der nicht nur seine Frau, sondern auch sein Kind in ein solches, vermeidbares Unglück stürzt. Dass diese Ehe nicht gut geht, erfährt die Leserschaft bereits im ersten Drittel des Buches. Gott sei Dank, möchte man denken, doch vor der Trennung stehen leidvolle Jahre, von denen der Roman erzählt.

„Fett und schizophren. Das hat er gesagt.“ In dem Moment, in dem sie es ausspricht, kehrt die Erinnerung wieder. Ich höre meinen Vater diese Worte sagen. Und ich sehe meine Mutter vor mir, die dazu schweigt.“

Die Qual endet erst, als die Kinder aus dem Haus sind. Aus einer erwachsenen Perspektive kann Ela die Äußerungen ihres Vaters über die Mutter als das erkennen, was sie waren: Lügen.

Der Roman „Lügen über meine Mutter“ ist eine Geschichte über Gleichberechtigung, Patriarchat, Familienarbeit, gesellschaftlichen Aufstieg und – aktuell wie eh und je – die Rolle der Mutter in der Gesellschaft. Durch die Auseinandersetzung mit der allzu oft unsichtbaren Care-Arbeit von Frauen gelingt Dröscher ein gelungener Bezug zur Gegenwart.

Die Erzählung gewinnt durch ihre Struktur.

Erzählt wird aus der Sicht des Kindes, dessen Wahrnehmung der Ereignisse durch Reflexionen der erwachsenen Ela ergänzt wird. Zwischen den Kapiteln finden sich Einschübe, in denen die Ich-Erzählerin über Gespräche mit der mittlerweile vom Vater getrennt lebenden Mutter berichtet. Daniela Dröscher ist wie ihre Protagonistin Ela 1977 in Rheinland-Pfalz geboren. Wie stark die Geschichte auf einer autobiografischen Grundlage beruht, bleibt Vermutung.

Daniela Dröscher zeigt mit ihrem Roman „Lügen über meine Mutter“, wie ungerecht das Leben für Frauen vor vierzig Jahren war. Dass wir im Jahr 2023 noch über gleiche Bezahlung für Frauen und Männer oder zu wenig Frauen in Führungspositionen diskutieren, zeigt die Aktualität des Themas. Wie erschreckend schnell unsere Gesellschaft in alte Rollenklischees zurückfällt, hat die Situation vieler Frauen während der Corona-Pandemie gezeigt.

Ich empfehle den Roman „Lügen über meine Mutter“ uneingeschränkt.

Ein glückliches Ende bietet dieser Roman nicht und bleibt damit für mich bis zur letzten Seite – immerhin gibt es 444 davon – glaubwürdig. Das Unglück einer Frau, die immer dicker wird, ohne jegliche Anerkennung für ihre Arbeit lebt und selbstlosen Verzicht übt, hat mich berührt.

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