Isidor – ein jüdisches Leben
Die in Tel Aviv geborene Journalistin und Moderatorin Shelly Kupferberg erzählt in ihrem Debütroman „Isidor – ein jüdisches Leben“ von ihrem Urgroßonkel Isidor.
Obwohl Isidor aus einem ärmlichen Dorf in Ostgalizien stammt, schafft er den Sprung in die beste Wiener Gesellschaft. Dr. Isidor Geller: Jurist, Kommerzialrat, Berater des österreichischen Staates, Multimillionär, Opernfreund, Kunstsammler und nach zwei gescheiterten Ehen Liebhaber einer schönen, mäßig begabten Sängerin.
Ich habe Shelly Kupferberg bei einem Online-Bloggertreffen des Diogenes Verlages „kennengelernt“. Sie berichtete, dass sie nie den Plan hatte, einen Roman zu schreiben. Zu dem Thema kam sie, als sie vor einigen Jahren eine internationale Tagung in Berlin moderierte. Damals diskutierten die Teilnehmer über NS-Raubkunst und Provenienzforschung. Kupferberg erinnerte sich, dass sie selber einen angeblich wahnsinnig reichen Urgroßonkel gehabt hatte …
Was hatte der reiche Urgroßonkel mit NS-Raubkunst zu tun?
Isidor lebt bis zum „Anschluss“ Österreichs 1938 an das Nazireich in einer großzügigen Wohnung in einem Wiener Stadtpalais. Der großbürgerliche Onkel, besitzt Kunst, Interieur und vieles mehr. So berichtete es zumindest sein Neffe Walter, Shelly Kupferbergs Großvater. Die Frage, wohin all diese Bildern, das Porzellan, die Teppiche, Bücher und Möbel gelangt sind, ließ Shelly Kupferberg nicht mehr los. Sie begann ihre Recherche und der Wunsch wuchs, die Geschichte Isidors aufzuschreiben.
Anhand von Briefen, Fotos, alten Dokumenten und Archivfunden zeichnet Shelly Kupferberg das Leben ihres Urgroßonkels nach. Isidor war definitiv eine schillernde Figur, ein Lebemann, der den Luxus, die Kunst und die Oper liebte. Ihre Spurensuche führte sie von Ostgalizien nach Wien, von Budapest nach Hollywood und Tel Aviv.
Stil hat man oder hat man nicht
Isidor und sein Bruder Rubin sind gute Schüler. Sie verdienen sich mit dem Erteilen von Nachhilfestunden ein wenig dazu und dürfen das Geld – nach langen Diskussionen mit dem Vater – behalten. Weil sie immer hungrig sind, leisten sie sich hin und wieder einen Besuch im Gasthaus.
„Als Rubin gierig mit seiner Gabel in den großen Tscholenthaufen langen wollte, ermahnte ihn sein großer Bruder, dass vor jedem Mahl zunächst angestoßen werden müsse. „Stil hat man oder hat man nicht“, das habe nichts mit Geld zu tun. Dazu gehöre auch das Speisen mit Gabel und Messer. Und ein ordentliches Trinkgeld, behauptete der junge Isreal weltmännisch.“
Stil, den hatte der Kommerzialrat Dr. Isidor Geller (*15.9.1886 | † 17.11. 1938), der in einem kleinen Schtetl in der Nähe von Lemberg mit vier Geschwistern aufgewachsen war. Als junger Mann geht er nach Wien, nennt sich fortan Isidor und beginnt einen beachtlichen Aufstieg in der k.u.k Metropole.
»Isidor lernte rasch, den richtigen Augenblick abzuwarten und sich dann einzubringen. Ohne aufdringlich zu sein – er hatte die Gabe, Menschen für sich zu gewinnen.«
Als Direktor in einer Lederfabrik wird Isidor im 1. Weltkrieg nicht eingezogen und gelangt durch geschickten Handel auf dem Schwarzmarkt und Anlage in Aktien zu einem beachtlichen Vermögen.
Kupferberg erzählt von Isidors gesellschaftlichem Aufstieg, den opulenten Veranstaltungen in seinem Palais und seiner Liebschaft mit dem späteren Hollywood-Star Ilona Hajmássy (später Massey). Als sich der Einfluss der Nationalsozialisten in Wien ausbreitet wie ein bösartiges Krebsgeschwür, ignoriert Isidor die Gefahr. Er ist fest davon überzeugt, dass er mit seiner gesellschaftlichen Stellung nichts zu befürchten hat. Ein fataler Irrtum. Das Leben des Urgroßonkels erfährt einen jähen Bruch, als ihn die Nazis 1938 nach der Machtübernahme verhaften. Seine Familie ist bereits nach Palästina geflohen.
Die Gründlichkeit der Nazis
Vom Reichtum Isidors Gellers ist nichts übrig geblieben. Lediglich einen Kasten mit Silberbesteck konnte die Familie mit nach Palästina retten. Die Nazis beschlagnahmten alles. Kupferberg findet bei ihrer Recherche die Aufzeichnungen der Nazi-Schergen; jedes geraubte Stück wurde fein säuberlich in Listen aufgeführt – deutsche Gründlichkeit und Zynismus der Zeit.
Die Geschichte von Isidor ist ein berührendes Buch über das Schicksal einer jüdischen Familie – eine Biografie, die Shelly Kupferberg aufwendig recherchiert und mit Fiktion zu diesem Roman verdichtet hat. Warum berührend? Kupferberg schreibt unaufgeregt, fast ein wenig sachlich und wechselt immer wieder ins Dokumentarische. Gleichzeitig schafft sie es, dass sich der Leser mit den Protagonisten identifiziert und schafft emotionale Nähe. Diese Mischung ist es, die mich als Leserin berührt hat. Alles ist wahr.
Eine klare Leseempfehlung!
Über die Autorin
Shelly Kupferberg, geboren 1974 in Tel Aviv, ist in Westberlin aufgewachsen und hat Publizistik, Theater- und Musikwissenschaften studiert. Sie ist Journalistin und moderiert für ›Deutschlandfunk Kultur‹ und ›RBB Kultur‹ diverse Sendungen zu Kultur und Gesellschaft. Shelly Kupferberg lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Buchinformation
Shelly Kupferberg „Isidor – Ein jüdisches Leben“
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN 978-3-257-864458
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Ich habe ein echtes Faibel für Gesellschaftsromane. Wer meinen Blog durchforstet, wird mehr davon finden – alle lesenswert!
Zum Beispiel „Melnitz“ von Charles Lewinsky oder „Effingers“ von Gabriele Tergit – um nur zwei zu nennen.
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