Melnitz 2 Karin Kricsfalussy textfan.de
  • Gepostet am 24. Februar 2021

Melnitz

Was für ein Buch! Prall gefüllt mit Geschichte und Geschichten. Ein fetter Schmöker, wobei ich dieses Wort nicht negativ meine. Im Gegenteil: „Melnitz“ ist eines der Bücher, in das man abtaucht, üppig und jede Seite macht Lust auf mehr. Knapp 800 Seiten erwarten den Leser. 800 Seiten, die mir erst Respekt einflößten, dann Freude und zum Schluss Wehmut, denn das Buch war viel zu schnell ausgelesen.

Worum geht es in Charles Lewinskys „Melnitz“?

Charles Lewinsky erzählt in „Melnitz“ eine Familiensaga über eine jüdische Familie in der Schweiz. Der Leser begleitet die Meijers über mehrere Generationen hinweg – von 1871 bis 1945. Charles Lewinskys Roman gewährt einen detailgenauen Blick in jüdisches Leben – seine Feste und Bräuche, das kleinstädtische Miteinander, über Heiratsvermittler, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Tuchhandel und Turnvereinsfeste. Ein umfangreiches Glossar jiddischer Ausdrücke ist angefügt. Das brauchte ich und es war erhellend, festzustellen, wie viele jiddische Begriffe in unserer Sprache lebendig sind (meschugge, Mischpoche, schicker, Schnorrer – kennt man doch, oder?).

Lewinsky beschreibt den jüdischen Alltag und gibt Einblicke in den Antisemitismus Schweizer Art.

Die Geschichte beginnt im Haus des Viehhändlers Salomon Meijer in Endingen, der dort mit seiner Frau Golde, seiner Tochter Mimi und dem Mündel Chanele lebt. Das Leben Salomons ändert sich, als Janki, Sohn eines entfernt verwandten Onkels, auftaucht. Der war im Krieg und hatte Glück, denn er nahm nie an kämpferischen Handlungen teil. Später legt Janki sich eine Kriegsverletzung zu, er hinkt, avanciert zum Kriegshelden und nutzt dies clever für das Fortkommen seines Tuchhandels.

Im Roman gibt es glückliche und weniger glückliche Ehen, es gibt Geschäftemacher, kleinkarierte Lehrer und ambitionierte Sozialisten. Da ist die verwöhnte Mimi, die ihre dramatischen Gesten den Schauspielerinnen im Stadttheater abschaut. Chanele, das Mündel, das in der Familie mehr Dienstmagd als Tochter ist. Pinchas, der Schlachter, der mit Worten so gekonnt umgeht wie mit dem Messer und der Janki mit seinem journalistischen Talent vor dem Ruin bewahrt. Arthur, der Arzt, der sich in einen jungen Mann verliebt und in den Turnverein eintritt, um seiner Liebe nahe zu sein. Es gibt einen Verräter, der sich christlich taufen lässt und es gibt Salomons Ururenkel Hillel, mit seinem Traum nach Israel auszuwandern.

Eine Erfahrung teilen die authentisch und einfühlsam geschilderten Figuren und das ist der Antisemitismus – demütigend und hässlich. Wer in der eidgenössischen Gesellschaft akzeptiert werden will, muss sich anpassen – diese Erkenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch.

 Onkel Melnitz, der Chronist und Warner.

„Ein Jud bleibt ein Jud, egal, wie oft er sich taufen lässt.“

Das sagt Onkel Melnitz, die Figur, die dem Roman seinen Namen gibt. Längst tot, erscheint er den Protagonisten als Chronist und Warner. Er erkennt den Antisemitismus, wo keiner ihn sieht oder ihn nicht sehen will. Melnitz taucht immer wieder unerwartet auf, um die aufzurütteln, die auf Anerkennung hoffen und getäuscht werden.

„Mejier“, sagte von Stetten […],“Mejier, ich habe nur eine Frage an dich: bist du Jude?“
„Was spielt das für eine Rolle? Ich bin auch Franzose, und ihr habt gesagt …“
„Ich würde es begrüßen, Herr Mejier“, sagte Leutnant von Stetten, „wenn sie mich nicht duzen würden.“

Ich brauchte einen Moment, bis ich die Funktion dieser Figur verstanden hatte, die so unvermittelt in der Handlung erscheint, ohne direkt auf sie einzuwirken. Melnitz ist das jüdische Gewissen, der den Finger in die Wunde legt und die Dinge beim Namen nennt.

„Er wusste alles und erlaubte niemandem, es zu vergessen.
„Genießt euer Leben“, sagte er. „Ihr habt Glück gehabt, hier in der Schweiz.“

Ich habe diesen Roman verschlungen. Mit der Familie Meijer fühle ich mich so verbunden, dass ich mich gar nicht von ihr trennen kann. Es ist jetzt ein paar Tage her, dass ich das Buch zu Ende gelesen habe, und immer noch bin ich in Gedanken bei den Figuren. Kann es etwas Schöneres für einen Buchmenschen geben?

Meine Freude an diesem Lesestoff soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Roman ein Buch über den Antisemitismus in der Schweiz ist. Lewinsky lässt sie nicht aus, die kleinen und großen Bösartigkeiten, die den Mitgliedern der Familie Meijer in allen Zeiten widerfahren, allein weil sie Juden sind. Sie ducken sich weg, gehen der Konfrontation aus dem Weg, schmeicheln sich ein und bleiben trotzdem die Sündenböcke für so vieles. Selbst wenn es die Schweizer Juden in Zeiten des Nationalsozialismus nicht so hart getroffen hat wie ihre Glaubensgenossen in Deutschland, so war das „braune Gedankengut“ genauso in der Schweiz verbreitet. Viele Menschen fanden in der Schweiz zumindest vorübergehend Schutz vor dem Nazi-Regime. Wer jedoch mit dem so genannten Judenstempel im deutschen Pass an der Schweizer Grenze auftauchte, musste damit rechnen, abgewiesen zu werden.

Lest dieses Buch. Charles Lewinsky hat nicht nur einen fesselnden Roman geschrieben, sondern einen, der der Fassungslosigkeit der Geschichte Sprache verleiht.

Über den Autor

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert. Nach Tätigkeiten als Dramaturg und Regisseur arbeitet er seit 1980 als freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman Melnitz. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.

Buchinformation

Charles Lewinsky „Melnitz“

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co.KG,  9. Auflage 2020

ISBN 978-3-423-13592-4

 

 

 

 

 

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