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  • Gepostet am 12. März 2019

Die einzige Geschichte

Paul ist neunzehn, gelangweilt, ein Schnösel, der auf seine Umwelt mit Hohn und Spott reagiert. Seine Semesterferien verbringt er bei seinen Eltern in einem Londoner Vorort, einer gut situierten, konservativ geprägten Gegend. Um nicht nur herumzuhängen, folgt er widerwillig der Aufforderung seiner Mutter und tritt dem örtlichen Tennisclub bei. Dort trifft er auf Susan Macleod, eine verheiratete Frau, Ende vierzig, die seine Doppelpartnerin und bald darauf seine Geliebte wird.

Jetzt folgt die bekannte Mrs. Robinson Geschichte, denkt der Leser, nur dass die „Reifeprüfung“ diesmal in der Nähe von London spielt. Doch weit gefehlt: Was dem ersten Doppel auf dem Tenniscourt folgt, ist keine kleine Affäre, sondern eine Liebesbeziehung, die allen Krisen und Hindernissen zum Trotz mehr als zehn Jahre andauern wird.

In seinem neuesten Roman „Die einzige Geschichte“ lässt Julian Barnes einen Mann mit dem Abstand von fünfzig Jahren auf sein früheres Leben schauen. Was der gealterte Paul weiß, hätte er in seiner Jugend niemals vorhersehen und sich niemals ausdenken können. Die Ereignisse aus jenen frühen sechziger Jahren – hier nimmt die Geschichte ihren Anfang – werden sein ganzes weiteres Leben bestimmen.

Dass das Leben zwar vorwärts gelebt, aber nur rückwärts verstanden wird, ist keine neue Erkenntnis. Hätte Paul anders gehandelt, wenn er gewusst hätte, welches Leben auf ihn zukommt? Mit neunzehn glaubt Paul zu wissen,

 „dass die Liebe unvergänglich ist, dass die Zeit ihr nichts anhaben und kein Schatten sie trüben kann“.

Der ältere Paul weiß im Rückblick, dass alles viel komplizierter ist.

Susan ist zwar älter, aber ähnlich unerfahren wie Paul. Ihr Mann Gordon, mit dem sie eine abgekühlte Beziehung führt, wird geradezu grotesk beschrieben: Ein Ehekandidat zweiter Wahl, eine rülpsende, Frühlingszwiebeln kauende Witzfigur, die gut Kreuzworträtsel lösen kann und eine pedantische Handschrift hat.

Paul ist, sehr zum Missfallen seiner Eltern, regelmäßig bei Susan zu Besuch. Dreist nistet er sich in der fremden Familie ein, ignoriert die erwachsenen Töchter Susans und genießt ganz offensichtlich die Provokation, die das Verhältnis mit einer älteren Frau auslöst.

Julian Barnes benennt die Kapitel des Buches nüchtern „Eins“, „Zwei“ und „Drei“. Im ersten Kapitel wirkt die Geschichte noch leicht, fast spielerisch. Sie dreht sich um die erwachenden Gefühle zwischen Paul und Susan, ihren heimlichen Treffen und dem zwar tumben, aber noch amüsant wirkenden Ehemann. Spätestens in Kapitel „Zwei“ dreht sich die Stimmung in der Erzählung.

Im Village gibt es Gerede. Paul und Susan werden aus dem Tennisclub geworfen. Das Paar beschließt, dem Vorort den Rücken zu kehren und gemeinsam in London ein neues Leben zu beginnen.

Tagsüber ist Paul an der Universität. Susan sitzt zu Hause und beginnt, ihre Einsamkeit und ihre negativen Gedanken mit Alkohol zu bekämpfen. Barnes zeigt dem Leser eine andere Susan: Eine verletzte Frau, die immer wieder von ihrem Mann Gordon geschlagen wurde, besonders dann, wenn er getrunken hatte. Selbst nach der Trennung kann sie sich nicht dagegen zur Wehr setzen und einem inneren Bedürfnis folgend, sucht sie immer wieder ihr ehemaliges Zuhause auf.

Susan trinkt, gelobt Besserung, trinkt wieder. Paul schaut hilflos dabei zu. Im Rückblick erzählt Paul über den langsamen Verfall Susans und seiner Beziehung zu ihr.

Was wird aus uns? Was macht ein Leben und eine Liebe aus? Darauf kann ganz verschieden geschaut werden. Nicht zuletzt durch einen klug gewählten Perspektivwechsel macht Julian Barnes dies deutlich. Seinen Erzähler Paul lässt er zunächst in der ersten Person berichten, was Nähe und Intimität schafft. Im zweiten Teil wählt Barnes eine fast anklagende Du-Form, die den Leser ganz ungebremst mit Pauls Scham und Schuldgefühlen konfrontiert. Schließlich im letzten Teil wechselt Barnes in die dritte Person. Paul spricht von sich im „er“ und schafft so Distanz.

Paul kann Susan nicht retten und verlässt sie irgendwann. Am Ende bleiben Paul zwei Sichtweisen auf das Leben:

Ist das Leben eine Anreihung von Entscheidungen und der Mensch ist „der Kapitän eines Raddampfers“, der über den „gewaltigen Mississippi des Lebens“ fährt? Oder ist das Leben vorherbestimmt und nicht mehr als ein „Knubbel in einem Baumstamm, der selbst auf dem gewaltigen Mississippi umhergetrieben wird“?

Julian Barnes „Einzige Geschichte“ fesselt den Leser vom ersten bis zum letzten Satz.

„Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und dafür weniger leiden? […] Wer kann schon bestimmen, wie viel er liebt? Wenn man es bestimmen kann, ist es keine Liebe.“

Was für ein fulminanter Einstieg in einen Roman! Julian Barnes wirft Fragen auf und ermuntert dadurch den Leser, sich auf einen inneren Diskurs einzulassen. In der Rückschau auf zwei Leben, die sich auf bedrückende Weise ineinander verstrickt haben, bietet Barnes dem Leser immer wieder neue Einsichten und Blickwinkel.

„Sie (Susan) hatte ihm erklärt, dass jeder Mensch seine Liebesgeschichte hat. Selbst wenn sie eine Katastrophe war, selbst wenn sie im Sande verlief, gar nicht in Gang kam oder überhaupt nur in Gedanken stattfand: Das macht sie nicht weniger real. Und es war die einzige Geschichte.“

Nach 304 Seiten klappt der Leser das Buch zu und bleibt mit seinen Gedanken allein: „Habe ich auch eine eigene einzige Geschichte?“, wird er sich vielleicht fragen. Wie würde ich von dieser Geschichte erzählen? Bringt dieses Erzählen die Wahrheit des Geschehens näher oder führt es weiter davon weg? Ein Gedankenabenteuer für die ganz Mutigen. Ein Glück, dass nicht alle Liebesbeziehungen so enden wie die von Susan und Paul.

Der Roman ist konsequent aus der Sicht Pauls geschrieben, somit bleibt die Figur der Susan deutlich blasser. An einigen Stellen des Buches hätte man gerne etwas mehr von ihr erfahren: Was z.B. genau zieht sie zu Paul hin, was bedeutet er ihr, wie kommt es, dass sie schließlich dem Alkohol verfällt?  „Die einzige Geschichte“ ist ja nicht nur die große Liebe für Paul, sondern auch für Susan.

Der Autor Julian Barnes wurde 1946 in Leicester geboren. Er studierte moderne Sprachen, arbeitete als Lexikograph und später als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor. Für seinen Roman „Vom Ende einer Geschichte“ wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London.

 

Kurz und Knapp

In den frühen sechziger Jahren verlebt der neunzehnjährige Paul die Semesterferien bei seinen Eltern. Im Tennisclub des Londoner Vororts lernt er die bedeutend ältere, verheiratete Susan kennen. Aus den beiden wird ein Liebespaar. Paul ist fest davon überzeugt, dass er die Frau fürs Leben gefunden hat und genießt die gesellschaftliche Provokation, die das Verhältnis auslöst. Die Beziehung dauert trotz aller Hindernisse mehr als zehn Jahre. Als Paul und Susan in London ein neues Leben beginnen, müssen sie feststellen, dass man die Vergangenheit nicht einfach beiseiteschieben kann. Susan beginnt zu trinken, um ihrer Einsamkeit und ihren negativen Gedanken zu entfliehen.

Fünfzig Jahre später erzählt nun Paul im Rückblick von dieser Liebesbeziehung, die sein ganzes Leben bestimmt hat, er berichtet über den langsamen Verfall Susans und das sich anbahnende Ende ihrer Beziehung.

„Die einzige Geschichte“ ist ein leidenschaftlicher, bewegender Roman über die Liebe, ohne jemals ins Seichte abzudriften. Ein absoluter Lesegenuss – ein Buch, das man kaum aus der Hand legen kann. Wer auf ein Happy End hofft, hofft leider vergebens.

 

Buchinformation

Julian Barnes, „Die einzige Geschichte“

Verlag Kiepenheuer&Witsch, Köln

Übersetzung: Gertraude Krueger © 2019

ISBN 978-3-462-05154-4

 

 

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