Tage ohne Ende
Thomas McNulty und John Cole sind schwul. Die Tatsache, dass die beiden ein Liebespaar sind, spielt in Sebastian Barrys aufwühlendem Neo-Western „Tage ohne Ende“, der in der Hälfte des 19. Jahrhunderts in Amerika spielt, eine feine, doch eher untergeordnete Rolle. Worte wie „schwul“ oder „homosexuell“ wird der Leser nicht finden. Es ist fast eine Wohltat, dass ihre Liebe so ganz undefiniert und vor allem unbewertet bleibt.
Thomas McNulty ist „13 oder so“, als er aus Irland nach Kanada kommt. Seine Familie ist tot – gestorben während der großen Hungersnot, „The Great Famine“, die zwischen 1845 und 1849 eine Million Todesopfer fordert.
„Ich liebte meinen Vater, früher, als ich noch ein Mensch war. Dann starb er, und ich hungerte, und dann das Schiff. Dann nichts. Dann Amerika.“
Thomas bringt sich auf ein Schiff und flüchtet vor dem Hunger nach Amerika. Dort werden die Lebensumstände für ihn jedoch nicht besser. Er schlägt sich mehr schlecht als recht durch.
Den noch jüngeren John Cole trifft McNulty zwei Jahre später. Es ist eine schicksalshafte Begegnung.
„John Cole war erst zwölf, als er auf Wanderschaft ging. Wie ich ihn gesehen hab, dacht ich gleich, das ist ein Kumpel. Genau so war´s auch. War einer von der hübschen Sorte, fand ich. Auch wenn sein Gesicht vor Hunger ganz verhärmt war. Traf ihn unter ner Hecke im gottverdammten Missouri.“
Nun sind es zwei hungernde Jungs auf der Suche nach einem Job. In Daggsville, einem Bergarbeiternest in Missouri finden sie in einem Saloon Arbeit. Weil es in Daggsville an Frauen mangelt, sucht der Saloonbesitzer als Ersatz zwei Jungs, die als Frauen verkleidet mit den Bergarbeitern tanzen sollen. Eine echte Notlösung, von der er hofft, sie möge nicht allzu sehr auffallen.
„Sie brauchen nur die Illusion des sanften Geschlechts. […] Nur tanzen. Nicht küssen, nicht schmusen, nicht fummeln oder knutschen.“
50 Cent für jeden von ihnen pro Nacht und ein warmer Platz zum Schlafen, dieser Verlockung können Thomas und John nicht widerstehen. Und sie machen ihre Sache gut, bis ihnen die Frauenkleider nicht mehr passen. Sie sind keine Jungs mehr, sie werden langsam zu Männern.
Da sie von etwas leben müssen, heuern sie bei der Armee an und werden zwischen St. Louis, Kalifornien und Tennessee über die Great Plains hin und her geschubst. Tage- und wochenlang reiten sie mit ihrer Truppe nach Westen, das Ziel ihrer Mission ahnen sie nur.
„Doch tief in unsrem Herzen wussten wir, was unsere Arbeit war: die Indianer.“
Als Soldaten geraten sie in eine nicht enden wollende Kette aus Attacken und Vergeltungsaktionen mit einem Stamm der Sioux. Jedes Blutbad zieht das nächste nach sich.
„Der Rauch zog ab und endlich konnten wir etwas von unserem Schlachtfeld sehen. Da schrumpfte mein Herz in seinem Nest aus Rippen zusammen. Um uns lagen nur Frauen und Kinder. Nicht ein einziger Krieger unter ihnen. […] Ich war erschrocken und zugleich erzürnt, vor allem über mich selbst, denn ich wusste, dass ich an dem Angriff eine seltsame Freude gehabt hatte.“
Entsetzt beschreibt McNulty, wie es aussieht, wenn die Indianer von ihren Pferden stürzen, wenn ihnen Köpfe oder Geschlechtsteile abgeschnitten werden. Doch für ihn gibt es nur zwei Möglichkeiten: töten oder selbst getötet zu werden. Davor fürchtet sich McNulty am meisten. Es ist diese ständige Angst, die den Roman so erschütternd macht.
Thomas McNulty und John Cole suchen keinen Sinn in ihrem Tun. Sie folgen den Notwendigkeiten und Gelegenheiten, wie sie sich ergeben. Sie erleben eine kurze, glückliche Episode, als sie mit dem von ihnen adoptierten Indianermädchen Winona in St. Louis leben. Dort treten sie als Liebespaar in einer Show auf. Dann bleiben die Zuschauer aus, weil viele von ihnen in den Bürgerkrieg ziehen.
Auch Thomas und John werden wieder Soldaten. Diesmal schießen sie auf ihresgleichen, die sich von ihnen nur durch die Farbe ihrer Uniform unterscheiden. Die Nord- und Südstaaten sind tief gespalten. Als Reaktion auf die Wahl des gemäßigten Gegeners der Sklaverei Abraham Lincoln zum US-Präsidenten treten im Winter 1860/61 die meisten Südstaaten aus der Union aus. Es beginnt ein erbitterter Bürgerkrieg.
Sebastian Barry führt seine Protagonisten an reale Orte, wie z.B. das Kriegsgefangenenlager Andersonville in Georgia, in dem 1864 und 1865 von den rund 45.000 Gefangenen fast 13.000 unter unmenschlichen Umständen starben.
„Andersonville. Haben Sie je von diesem Ort gehört? Fünf Tage hat´s gedauert, uns dort hinzuschaffen, und wenn´s jemals einen Flecken gegeben hat, der den Marsch nicht wert war, dann den. Das Einzige, was wir auf der Strecke gekriegt haben, […] waren verdrecktes Wasser und klitschige Klumpen Maisbrot, wie sie´s nennen. […] Ein Regiment Grauröcke, um uns zu bewachen, und die hatten auch nichts anderes als diesen widerlichen Fraß. Die zerlumptesten Soldaten, die ich je gesehen habe.“
Thomas McNulty und John Cole überleben auch diese Hölle. Vielleicht kommt jetzt die Zeit für ein kleines Glück, doch die Vergangenheit holt sie wieder ein.
Sebastian Barry gibt seinem Protagonisten Thomas McNulty, einem einfachen, von den Geschehnissen gezeichneten 20-Jährigen eine Sprache mit ungemein sinnlichem und lyrischem Reichtum. Mit präzisem Blick beschreibt der Ich-Erzähler McNulty die atemberaubende Schönheit und Bedrohlichkeit der amerikanischen Weite.
„Nur vier oder fünf Stunden später erblicken wir einen Landstrich, dessen Schönheit unsere Knochen durchdringt. […] Aber jetzt sehen wir in weiter Ferne, wie sich die Landschaft andeutet, als wär da draußen ein Mann, der sie mit einem riesigen Pinsel malt. Für die Hügel wählt er ein Blau, so hell wie fallendes Wasser, und für die Wälder gibt´s ein Grün, so grün, dass du denkst, man könne zehn Millionen Edelsteine daraus schleifen. Flüsse aus emailliertem Blau brennen sich durch die Landschaft.“
Barry beschreibt das armselige, durch Hunger und Entbehrungen geprägte Soldatenleben mit großer Präzision. Nie schont der Autor den Leser. Die Schilderungen von Hass und Grausamkeiten treffen mit unverminderter Härte. Diese Brutalität entspringt nicht allein der Fantasie des Autors, sondern hangelt sich nah an den realen Begebenheiten dieser Zeit entlang. Erholung verschaffen dem Leser die kurzen Sequenzen, in denen Thomas über seine große Liebe John Cole und ihr Leben mit seiner Adoptivtochter, dem Indianermädchen Winona berichtet.
Die Sinnlosigkeit von Kriegen, die zerstörerische Kraft, die in uns Menschen schlummert, beschreibt der Roman „Tage ohne Ende“ einmal mehr. Die Tatsache, dass der Text fast durchgängig ohne direkte Schuldzuweisungen und Bewertungen auskommt, macht diese Absurdität umso deutlicher. Töten, um nicht selbst getötet zu werden, ist das perfide Credo dieses aufwühlenden Romans.
Der vielfach ausgezeichnete Autor Sebastian Barry, 1955 in Dublin geboren, schreibt Theaterstücke, Lyrik und Prosa. Für „Tage ohne Ende“ erhielt Barry als erster Autor überhaupt zum zweiten Mal den Costa Book of the Year Award. Sebastian Barry lebt in Wicklow, Irland.
Kurz und knapp:
„Tage ohne Ende“ ist die Geschichte zweier junger, schwuler Männer, die in Amerika in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei der Armee anheuern, auf den Great Plains gegen Indianer kämpfen und später im Bürgerkrieg in Kriegsgefangenschaft geraten. Mit sprachlicher Brillanz beschreibt Sebastian Barry die menschenverachtenden Grausamkeiten dieser Zeit, genauso wie die unerschütterliche Liebe zwischen Thomas McNulty und John Cole und die kurzen Episoden des Glücks mit ihrer Adoptivtochter, der Indianerwaisen Winona.
Dieser Roman hat mich nicht berührt, er hat mich mit aller Wucht umgehauen. Ich habe ihn nicht mit Freude, sondern mit immer wieder aufkeimender Hoffnung gelesen. Hoffnung darauf, dass es doch so etwas wie Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden gibt. Zumeist wurde ich enttäuscht und manche Textpassagen waren für mich nur schwer erträglich – aber so ist das, wenn sich ein Autor ganz nah an die Realität heranschreibt.
Buchinformation
Sebastian Barry, „Tage ohne Ende“
Steidl Verlag, Göttingen 2018
Aus dem Englischen von Hans- Christian Oeser
ISBN 978-3-95829-518-6
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1 Kommentar zu „Tage ohne Ende“
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Klingt nach einem guten, aber aufwühlenden Buch! Anscheinend hat man nach dem Lesen wirklich Rede- und Denkbedarf, was ich sehr gut finde.