Anders als wir Karin Kricsfalussy textfan.de
  • Gepostet am 11. Dezember 2019

Anders als wir

„Meine Mutter ist, wie sie ist, sagte Angelica, nur hätte ich gerne normale Eltern gehabt.“ […] Angelica dachte kurz nach. „Wie sind normale Eltern?“
„Keine Ahnung. Das ist es ja gerade.“
„Normale Eltern spielen mit ihren Kindern, wenn sie klein sind.“
„Normale Eltern verbieten einem alles Mögliche“, sagte Nigel.
„Sie sind neugierig auf alles, was Du so anstellst.“
„Sie schlafen in einem Bett oder zumindest im gleichen Zimmer“, sagte Angelica.

Die kleine Angelica möchte in einer ganz normalen Familie leben. Ein nicht leicht zu erfüllender Wunsch, wenn man in eine Künstlerfamilie hineingeboren wird, die einige Anstrengungen unternimmt, nicht so wie alle anderen zu leben.

Angelica ist die Tochter der Malerin Vanessa Bells und die Nichte von Virginia Woolf, um die sich die sogenannte Bloomsbury Group, eine Gruppe von Künstlern und Intellektuellen, die maßgeblichen Einfluss auf Englands kulturelle Modernisierung hatte, schart.

Das Kind wächst, gemeinsam mit den älteren Brüdern Julian und Quentin, in Charleston, einem großen, ehemaligen Bauernhaus in Sussex auf. Zum Haus gehören ein großer, ummauerter Garten und ein Teich, die das Reich der kleinen Angelica sind.

„Dort strolchte sie herum und spielte die Bücher nach, die ihr vorgelesen wurden. „Gullivers Reisen“. „Alice im Wunderland“. Vor allem aber „Der geheime Garten“.“

Für Angelica ist das ihr gewohntes und ganz normales Leben, das erstmals aus dem Takt kommt, als sie gleichaltrige Mädchen trifft.

Ein Vater-Mutter-Kind-Spiel wird zur echten Herausforderung, weil das nachgespielte Leben nichts mit dem zu tun hat, was Angelica kennt. Kein Wunder, denn sie lebt mit ihren Brüdern bei ihrer Mutter und deren Lebensgefährten, dem homosexuellen Maler Duncan Grant und dessen jeweiligen Liebhabern. Ihr Vater Clive ist regelmäßiger Gast in Charleston, wohnt und arbeitet jedoch in London. Nein, Angelicas Leben gleicht so gar nicht dem ihrer Spielkameradinnen. Als sie in die Schule kommt, merkt sie ein ums andere Mal, dass sie und ihre Familie anders sind. Angelica fühlt sich einsam und traurig.

Die Geschichte, die der Autor Rindert Kromhout in seinem Buch „Anders als wir“ erzählt, beginnt mit dem Verschwinden von Angelicas Tante, Virginia Woolf, im März 1941. Angelica ist zu diesem Zeitpunkt eine junge Frau. Ihre Tante spielte in ihrem Leben immer eine wichtige Rolle. Anders als ihre Schwester Vanessa erkannte Virginia das Bedürfnis des Mädchens, „normal“ zu sein und zwischen den anderen nicht aufzufallen. So sorgt sie zum Beispiel dafür, dass das Mädchen unauffällige und zeitgemäße Kleidung bekommt und geht mit ihr zum Frisör. Angelica bekommt den ersten richtigen Haarschnitt ihres Lebens.

„Sie sind hübsch“, sagte Angelica. „Aber was wird Mama sagen? Sie könnte es irgendwie als …“
„Als was? Kritik auffassen, weil du die Kleider, die sie für dich aussucht, nicht mehr tragen willst? Ach was, das ist keine Kritik. Du siehst mit den neuen Kleidern wie ein ganz gewöhnliches, langweiliges Mädchen aus. Und das macht dich glücklich. Was soll daran schlimm sein?“
Angelica grinste.

Nach dem Verschwinden von Virginia, deren Leiche erst drei Wochen nach ihrem Selbstmord gefunden wird, beginnt Angelica, ihre Geschichte und ihre Version ihrer Kindheit zu erzählen. Quentin, ihr Bruder, hört seiner kleinen Schwester zum ersten Mal richtig zu und gemeinsam schreiben sie Angelicas Geschichte auf.

Angelica ist die, die »anders« sein möchte, anders als all die in der Familie, die sich nicht um gesellschaftliche Konventionen scheren. Angelica träumt sich in eine ganz normale Familie, will als Zehnjährige gar Köchin werden, so wie Grace, die in Charleston den Haushalt führt.

Was gefällt mir an diesem Jugendbuch, dass Kromhout für Jugendliche ab 13 Jahren geschrieben hat?

„Anders als wir“ eignet sich nun wirklich nicht nur für Jugendliche, sondern auch für alte Lesehasen, denn als einen solchen würde ich mich bezeichnen. Nach oben sollte es bitte keine Altersbegrenzung geben! Mir hat die Lektüre dieses Buches eine besondere Freude bereitet, denn jetzt habe ich eine Vorstellung davon, wie die berühmten Künstler des Bloomsbury-Kreises gelebt und gearbeitet haben könnten. Manchmal amüsant, für die damalige Zeit schräg, dann wieder berührend, insbesondere die Schilderung der bangen Tage, in denen die Familienmitglieder und Freunde nach Virginia Woolf suchen.

Die Geschichte der kleinen Angelica hat mich ans Nachdenken gebracht. Dieses Kind, das trotz seiner freigeistigen Umgebung, trotz des Fehlens strenger Regularien mit seinem Leben hadert, das sich nichts sehnlicher wünscht als Eltern, die sich kümmern. Kinder brauchen Zuwendung, sie brauchen Orientierung, etwas, auf das sie sich verlassen können – Angelica fehlt dieser Halt. Eine freiheitliche und freundliche Umgebung, die trotzdem dazu führt, dass Angelica kein wirklich glückliches Kind ist. Ein Thema also, davon bin ich überzeugt, das immer Konjunktur hat.

Rindert Kromhout hält sich an die geschichtlichen Fakten, wobei er natürlich die Begebenheiten ausschmückt, was verständlich ist, denn schließlich handelt es sich um einen Roman und keine Biografie. Kromhout beschreibt es in seinem Nachwort so:

„Wie schon bei „Brüder für immer“ habe ich auch in diesem Roman einige weniger wichtige Fakten ausgeschmückt, um, wie ich meine, das große Ganze besser ins rechte Licht zu rücken. Der wahren Geschichte ist dadurch, meiner Meinung nach, keine Gewalt angetan worden, sie hat sich in meine Erzählung eingefügt.“

Sehr schön, lieber Rindert Kromhout, so würde ich das auch sehen. Vielen Dank für dieses anregende Lesevergnügen, bei dem ich mal wieder etwas gelernt habe. Lesen bildet, ich hab´s ja gewusst.

Über den Autor:

Rindert Kromhout, geboren 1958 in Rotterdam, veröffentlichte seine erste Geschichte im Alter von 19 Jahren in einem Kindermagazin. Rund ein Dutzend seiner Buchpublikationen für Kinder und Jugendliche, die heute in vielen Sprachen als Übersetzungen vorliegen, wurden mit Preisen ausgezeichnet, darunter einige Bände seiner erfolgreichen Buchreihe um den „Kleinen Esel“. Mit dem Roman „Brüder für immer“ gelang ihm 2016 hierzulande der Durchbruch bei einer erwachsenen Leserschaft.
Der Autor lebt und schreibt in Amsterdam.

Kurz und Knapp

Angelica Bell wächst zusammen mit ihren älteren Brüdern Julian und Quentin in der Bloomsbury Group auf, einem Zusammenschluss von Künstlern und Intellektuellen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert in England wirken. Trotz der freigeistigen und regelfreien Umgebung, oder vielleicht gerade deshalb, hadert die kleine Angelica mit ihrem Leben. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als in einer ganz normalen Familie zu leben. Ihre ersten Begegnungen mit gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft verwirren das Kind. Sie spürt: Wir sind anders, ich bin anders. Als ihre berühmte Tante, Virginia Woolf, verschwindet, beginnt Angelica mit der Unterstützung ihres Bruders Quentin die Erinnerungen an ihre Kindheit aufzuschreiben. Man darf bis zum Schluss gespannt sein, wie sich das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter, der Malerin Vanessa Bell, entwickelt.

Ein anregendes Lesevergnügen, das ich ohne Altersbegrenzung nach oben empfehle.

Buchinformation

Rindert Kromhout „Anders als wir
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
Mixtvision 2018, München
Jugendbuch ab 13 Jahren

https://mixtvision.de/verlag-aktuell/

ISBN 978-3-95854-122-1

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