Himmelsstürmer
Über Madame Tussaud, Jean-Paul Marat und andere Revolutionäre
Als ich das Buch „Himmelsstürmer“ von Alex Capus aufschlug, kannte ich von den 12 dort porträtierten Himmelsstürmern und Revolutionären lediglich Madame Tussaud und Jean-Paul Marat. Die Eine durch das nach ihr benannte Wachsfigurenkabinett, um das der gewöhnliche Londonbesucher nicht umhinkommt. Den Anderen als eine Figur der französischen Revolution, um die wiederum das geschichtslernende Schülervolk nicht umhinkommt.
Wenn ich Bücher mit historischem Hintergrund lese, dann will ich auch etwas lernen. Daher recherchiere ich sehr genau, inwieweit sich der Autor an die tatsächlichen Gegebenheiten gehalten hat. Natürlich ist es der dichterischen Freiheit des Autors überlassen, hier und da etwas dazu zu erfinden und die Geschichte so im Nachhinein ein bisschen zu ergänzen. Das kann sehr schön, amüsant oder auch spannend sein. Wenn der Autor sich jedoch zu weit aus dem belletristischen Fenster lehnt und ich die historische Vorlage kaum noch erkenne, dann mag ich das einfach nicht. Was soll man glauben, was besser nicht? Mit welchem Wissen kann man in einem Gespräch glänzen, ohne Gefahr zu laufen, dass das Gegenüber kommentiert, dass dieses Detail nun wahrlich nicht den historischen Tatsachen entspricht?
Albert Capus hat meine strenge Prüfung gut bestanden und die acht Seiten Quellenverzeichnis am Ende des Buches dokumentieren Capus‘ Arbeitsaufwand. Umso erstaunlicher, wie leicht und unangestrengt jedes seiner 12 Porträts geschrieben ist.
Die Porträtierten, acht Männer und vier Frauen, sind allesamt Schweizer. Alle haben der Schweiz irgendwann den Rücken gekehrt und haben sich aufgemacht, ihren ganz persönlichen Himmel zu erstürmen. Dabei sind sie nicht alle Helden und Heldinnen, es sind Menschen, die ihren Visionen und Berufungen folgten und sich gegen das ihnen zugedachte Lebensmodell stellten.
«In jenem Jahr 1904, in dem Isabelle Eberhardt in der Sahara ertrank und Pierre Gilliard im Orientexpress nach Russland fuhr, reiste in entgegengesetzter Richtung von Sofia über Belgrad, Budapest und Wien ganz allein ein sechsjähriger Junge nach Zürich, den die Eltern für die dreitägige Fahrt vertrauensvoll der Obhut des Schaffners übergeben hatten.»
Alex Capus weiß, wie man Leser sofort gewinnt, denn natürlich wollte ich nach dieser Einleitung wissen, was dem kleinen Fritz Zwicky in Zürich widerfahren würde und wodurch er sich seinen Platz in Capus «Himmelsstürmer» verdient hat.
So ist es mir bei allen Figuren ergangen, deren Leben der Autor sprachlich locker und kurzweilig umreißt. Die Auswahl finde ich sehr gelungen, denn Capus gibt auch zweideutig schillernden Figuren einen Platz. Da ist etwa der falsche Arzt Hans Jakob Meyer, der in Griechenland gegen die Türken zu Felde zog, oder der Abenteurer Adolf Haggenmacher.
„Adolf Haggenmacher hatte das Unglück, zeitlebens am falschen Ort zu sein – und wenn er mal am richtigen Ort war, dann gewiss zur falschen Zeit.”
Mit diesem Satz beginnt die Geschichte Haggenmachers und endet mit seinem Tod am Ufer des Assalsees. Er starb, von seinen Feinden verfolgt, an Hunger, Durst und Erschöpfung.
Capus skizziert neben all den großen oder weniger großen männlichen Berühmtheiten das Leben von vier Frauen. Immerhin, wenn man bedenkt, in welcher Zeit Capus‘ Porträtierte lebten. Die finde ich übrigens fast interessanter als die meisten Männer.
Da ist Madame Tussaud, die im Laufe der zwölf Geschichten immer wieder als Figur auftaucht, ohne dass die Geschichten miteinander verknüpft sind. Die Dienstmagd, die als Kind das Wachsschnitzen erlernt, es dann mit ihrer Fertigkeit erst an den französischen Hof, später bis nach London schafft. Oder Regula Engel, Gattin eines Obersts und Mutter von 21 Kindern, die Napoleon über die Schlachtfelder Europas folgt und an der Seite ihres Mannes und ihrer Söhne kämpft.
Ungewöhnlich auch Marie Manning: Die Schweizerin wird Kammerzofe einer englischen Lady, heiratet und lässt sich von einem Liebhaber aushalten. Der bezahlt das mit seinem Leben – Marie Manning und ihr Mann erschießen ihn, um an seine Eisenbahnaktien heranzukommen. Dass das Leben der Manning kein gutes Ende nimmt, ahnt der Leser. Passt die Geschichte der Marie Manning zu den anderen „Himmelsstürmern“? Oder das wilde Leben der Isabelle Eberhardt, die allein in die Wüste reitet und sich jeden Mann nimmt, der ihr gefällt? Ich finde schon, denn die Porträts zeigen, dass dem Verbrechen häufig keine andere Motivation und Zukunftsfantasie zugrunde liegt als der größten Heldentat.
Über den Autor
Alex Capus, 1961 in Frankreich geboren, studierte Geschichte und Philosophie in Basel. Als Journalist schrieb er für verschiedene Schweizer Tageszeitungen. Seinem ersten Roman „Munzinger Pascha“ folgten zahlreiche weitere Bestseller, wie z.B. „Léon und Louise“ oder „Das Leben ist gut“. Alex Capus lebt heute als freier Schriftsteller in Olten, Schweiz.
Kurz und knapp:
Capus beschreibt das Leben (mehr oder weniger) berühmter Schweizer, wobei das Leben so ist, wie es ist, eben kein gerader Weg, an dessen Ende das Ziel schon winkt. Nein, Capus‘ „Himmelstürmer“ schwingen sich auf zu den höchsten Höhen, verschwinden in der Versenkung und machen weiter. Ziele werden selten erreicht und wenn ja, zieht es die Porträtierten weiter, frei nach dem Motto „Der Weg ist das Ziel“.
Alex Capus liefert nicht nur Lesevergnügen, sondern auch spannende historische Perspektiven, wobei der Autor nah an den Geschichtsquellen bleibt. Die Texte wirken frisch, unaufgeregt und sind kurzweilig zu lesen.
Ich empfehle dieses Buch besonders solchen Lesern, die wenig Zeit haben. Die einzelnen Porträts sind schnell gelesen und in sich abgeschlossen, auch wenn Madame Tussaud immer mal wieder auftaucht. Eine wirklich gute Bettlektüre.
Buchinformation
Alex Capus „Himmelsstürmer“
dtv Verlag, München; https://www.dtv.de/autor/alex-capus-1184/
ISBN 987-3-423-14710-1
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