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  • Gepostet am 30. November 2019

Eine Odyssee

Mein Vater, ein Epos und ich

„Während des ganzen Semesters hatte ich Freunden und Kollegen erzählt, dass mein einundachtzigjähriger Vater beschlossen hatte, an meinem Odyssee-Seminar teilzunehmen, aber am Ende war er wirklich ein „Student“ gewesen, ein Wort, das auf das lateinische studium („fleißiges Streben, sich einer Sache widmen“) zurückgeht. Er hatte sich in einer Weise dem Stoff gewidmet, die ich nie für möglich gehalten hätte, und ich hatte nichts bemerkt.“

Eines Tages beschließt Jay Mendelsohn, pensionierter Mathematiker und 81 Jahre alt, an dem Seminar seines Sohnes Daniel zu Homers „Odyssee“ teilzunehmen. Daniel Mendelsohn ist Professor und lehrt Altphilologie. Die Deutung der Odyssee ist eines seiner Steckenpferde, jene Geschichte, die von der sich über Jahrzehnte hinziehenden Rückkehr eines Mannes in seine Heimat und zu seiner Familie erzählt. Vater und Sohn ahnen nicht, dass dies der Beginn einer Reise in die eigene Familiengeschichte ist.

Ein Semester lang sitzt Jay Mendelsohn etwas abseits von den Studenten, denen sein Sohn das antike Epos nahezubringen versucht. Die Studenten lernen nicht nur Homers Odyssee mit ihren 24 Gesängen, also Kapiteln, kennen, sondern auch den eigenwilligen Alten. Jay hört nicht nur zu, er mischt sich in die Diskussionen ein, sagt, was er denkt. Für Jay ist Odysseus kein Held. Helfen ihm nicht ständig die Götter, wenn er seine Probleme nicht in den Griff kriegt?
Daniel ist irritiert, denn die Einwände seines Vaters eröffnen ihm andere Perspektiven auf das Epos. Der Sohn gerät, ausgehend von der Auslegung des antiken Textes, den er doch bestens kennt, ins Grübeln über den alten Mann, der sein Vater und ihm doch fremd ist.

Dass Odysseus Schwächen zeigt, lügt und täuscht, wird Jay im Laufe des Semesters immer wieder entrüsten. Daniel Mendelsohn beschreibt mit liebevoller Distanz, wie sich sein brummiger Vater – der es exakt und klar liebt – mit dem Epos, den jungen Studierenden und nicht zuletzt mit ihm, Daniel, auseinandersetzt.

Im Anschluss an das Seminar unternehmen Jay und Daniel Mendelsohn eine Mittelmeer-Kreuzfahrt, die dem Irrweg des Odysseus folgt. Wenn sie durch Grotten und Ruinen laufen und der Vater sachlich anmerkt, dass das Gedicht „realer“ sei, als die Stätten, die sie besuchen, wird klar, dass die beiden in einem viel umfassenderen Sinne unterwegs sind. Sie entdecken ihre Gemeinsamkeiten und finden eine wohltuende, heilende Nähe.

„Ich dachte daran, wie er nach unserem Besuch in der Grotte der Kalypso etwas gesagt hatte, was ich als Kind so gern von ihm gehört hätte: Gut gemacht, Dan!“

Anders als Odysseus erreichen sie das Ziel Ithaka nicht, ein Streik vereitelt die Weiterfahrt und das Schiff muss nach Athen zurückkehren.       

„Eine Odyssee“ ist die wirklich gelungene Komposition aus Familiengeschichte und einem tiefen Einblick in die Lektüre. Das Seminar wird zum Wendepunkt in einer Vater-Sohn-Beziehung, die nicht immer gut war. Davon berichtet Mendelsohn in einem parallel zum Seminar laufenden Handlungsstrang, der in Anlehnung an Homers „Odyssee“ die eigene Familiengeschichte aufzeigt.

Kunstvoll verstrickt Mendelsohn mehrere Erzählebenen:

Behutsame Einführung in Homers Odyssee

Der Leser wird behutsam an die Auslegung eines archetypischen Textes – Homers Odyssee – herangeführt. Bis zur Lektüre dieses besonderen Buches wäre ich nie auf die Idee gekommen, mir Homers Odyssee als Lektüre neben das Bett zu legen. Daniel Mendelsohn führt ein in die „Odyssee“ und macht große Lust, das Epos zu lesen.

Diskussionen und Gespräche mit den Studenten

Die Abschnitte des Buches, in dem die Gespräche und Diskussionen mit den Studenten beschrieben werden. Die Studierenden erarbeiten sich den Text und konfrontieren ihren Professor mit neuen Interpretationen.

Vater-Sohn-Beziehung

Daniel erinnert sich an seine eigene Kindheit und an den Vater, den in sich gekehrten genialen Mathematiker, der betrübt feststellen muss, dass sein Sohn keine Begabung für Mathematik hat, dafür aber die Begeisterung für die Antike.

„Jahre später, wenn mein Vater jene Bemerkung über Analysis machte, ohne die man die Welt nicht verstehen könne, entgegnete ich, dass man die Welt im Grunde auch nicht verstehen könne, wenn man die Aeneis nicht im Original gelesen hat. Und dann machte er diese kleine Grimasse, […] halb lächelnd, halb Stirnrunzeln, er verzog das Gesicht, wir lachten etwas schief, und jeder zog sich in seine Ecke zurück.“

Mendelsohn erzählt frei von Kitsch eine anrührende Vater-Sohn-Geschichte und setzt seinem Vater ein beeindruckendes Denkmal.

Mir macht dieses Buch Hoffnung. Hoffnung darauf, dass man im Leben immer mit unerwarteten Wendungen rechnen darf und dass es dafür nicht immer der Einmischung der Götter bedarf.

Über den Autor

Daniel Mendelsohn lebt als Kritiker, Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in New York. Er hat klassische Philologie an der University of Virginia und in Princeton studiert. Sein Buch „Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen“ wurde ein internationaler Bestseller.

Kurz und knapp

Der 81-jährige Jay Mendelsohn besucht überraschend das Uni-Seminar seines Sohnes Daniel zu Homers „Odyssee“. Das führt zu einer unerwarteten Annäherung der beiden auf den ersten Blick sehr verschiedenen Männer und einer Reise auf den Spuren des Odysseus. Eine berührende Vater-Sohn-Geschichte, frei von Kitsch.

„Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich“ ist für mich ein Buch-Highlight in 2019. Und keine Angst: man muss die Odyssee nicht kennen oder gar gelesen haben. Mendelsohn führt den Leser sanft in den Text ein, erklärt und ja, am Schluss ist man wirklich klüger.

Buchinformation

Daniel Mendelsohn „Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich“

Siedler Verlag, München Diogenes, deutsche Ausgabe 2019

ISBN 987-3-8275-0063-2

 

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1 Kommentar zu „Eine Odyssee“

  1. Liebe Karin,
    TREFFER ?? – dieses Buch wird ein Weihnachtsgeschenk und könnte passender nicht sein. Ich danke Dir für diesen Tipp. Herzliche Grüße, Christiane

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