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  • Gepostet am 28. Oktober 2019

Mittagsstunde

„Niemand konnte leiser essen und Treppen geräuschloser hinaufschleichen als Kinder, die in Nordfriesland aufgewachsen waren. Wenn es etwas gab, was den Menschen hier oben heilig war, dann war es ihre Mittagsstunde.“

Wie schön – ein ganzes Dorf, das sich zur Mittagszeit hinlegt und ein kleines Nickerchen auf dem Sofa in der guten Stube macht. Die Stunden zwischen zwölf und zwei Uhr waren im Dorf heilig. Schließlich hatten die Bauern sich ihre Ruhezeit verdient, waren in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, hatten ihre Kühe gemolken und waren auf die Felder gegangen. Von so einem Dorf und vom Verschwinden der dörflichen Gemeinschaften und deren Eigenheiten – also auch dem Aussterben der Mittagsruhe – erzählt Dörte Hansen in ihrem Roman „Mittagsstunde“.

Das fiktive Örtchen Brinkebüll liegt in Nordfriesland, der Heimat von Dörte Hansen. Wie die meisten deutschen Dörfer wird auch Brinkebüll das Opfer der Flurbereinigung in den 1960er Jahren.

Was ist eigentlich eine Flurbereinigung? Flurbereinigung nennt man in Deutschland das Bodenordnungsverfahren, das die Neuordnung des land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes zum Ziel hatte. Kleinere Felder wurden zusammengelegt und riesige Ackerflächen entstanden. In den vergangenen 50 Jahren haben sich die dörflichen Gemeinschaften durch die Flurbereinigung und der damit beginnenden modernen Landwirtschaft komplett verändert. Dörte Hansen beschreibt diesen Wandel, berichtet vom Verschwinden der Hecken, Hasen und Störche und der holprigen Dorfstraße aus Kopfsteinpflaster, die einer breiten, asphaltierten Straße weichen muss.

Hauptcharakter Ingwer Feddersen ist bald 50, als er beschließt, für ein Jahr nach Brinkebüll zurückzukehren, um den alten Großvater Sönke und die demente Großmutter Ella zu pflegen. Ingwer, der Hochschullehrer für Archäologie aus Kiel, steckt mitten in einer heftigen Midlife-Krise und hat das Gefühl, er müsse etwas wiedergutmachen. Wer in Brinkebüll geboren wurde, bleibt auch in Brinkebüll. Ingwer jedoch geht zum Studieren fort und übernimmt nicht den Dorfgasthof des Großvaters. Jetzt fühlt er sich schuldig.

„Manchmal, wenn er (Ingwer) in seinem vollgestapelten Büro am Schreibtisch saß, schien plötzlich Sönke Feddersen vor ihm zu stehen, in seiner schwarzen Breitcordhose, die Hände in den Seiten, auf den Teppichboden spuckend, weil ihm das alles unbegreiflich war. Wie man so dumm sein konnte: hinter Bücherstapeln kauern und in verstaubeten Seiten wühlen, das Leben einer Milbe, einer Assel führen. Wie einer fünfzehn Hektar Land und einen Gasthof liegen lassen konnte, um Steine und kaputte Töpfe auszubuddeln.“

Hier setzt der Roman ein und in stetem Wechsel von Kapitel zu Kapitel erzählt Dörte Hansen aus dieser Gegenwart und über die Vergangenheit des Dorfes.

Marret Feddersen ist die Tochter von Sönke und Ella Feddersen, die den Dorfgasthof betreiben. Sie sammelt Federn, Steine, Baumrinden und tote Tiere, singt und summt den lieben langen Tag vor sich hin und brabbelt unentwegt vom Weltuntergang. Von den Dorfbewohnern wird sie nur Marret Ünnergang genannt. Man sagt, sie ist ein bisschen verrückt.

Marret ist siebzehn Jahre alt, als sie schwanger wird. Wer der Vater ist, will oder kann sie nicht sagen. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um einen der Landvermesser handelt, der mit im Dorfgasthof wohnt. Ingwer, der Sohn, den sie zur Welt bringt, wird von den Großeltern Sönke und Ella aufgezogen.

Sensibel und melancholisch beschreibt Dörte Hansen die Dorfbewohner. Erzählt von Dorflehrer Steensen, der mit rüden Methoden versucht, den Dorfkindern das Plattdeutschsprechen abzugewöhnen, vom ewigen Junggesellen Hanno Thomsen, der auf seinem Mofa durch das Dorf knattert und immer der Letzte im Gasthof ist, und von der Kaufmannsfrau Dora Koopmann. Nach und nach lernt man sie alle kennen, die etwas knorzigen, verschrobenen und gerade deshalb liebenswerten Bewohner Brinkebülls: die Bäckerstochter, die immerzu liest, sogar hinterm Verkaufstresen, eine Hand in den Brötchen und in der anderen ein Buch. Oder Heiko Ketelsen, der als Kind nicht der Pfiffigste gewesen ist, aber das Herz am rechten Fleck und vor allem eine Vorliebe für den Wilden Westen hat.

Dörte Hansen bringt dem Leser Ingwer Feddersen besonders nah, den Junggesellen, der seit ewigen Zeiten mit einer Frau und einem Mann in einer Dreier-WG lebt. Eine Lebensform, die so gar nicht zu dem passt, was er in seiner Kindheit auf dem Dorf vermittelt bekommen hat.

„Ingwer spürte Sönkes Schädelknochen, seine Schulterblätter und die Rückenwirbel, jeden einzelnen, nur Haut darüber. Er sah die Flusslandschaft auf seinen Beinen, die blauen Venen, die sich über seinen Waden schlängelten. Die breite Narbe an der Flanke, die bleiche Haut an seinem Bauch. […] Nicht merken lassen. Was man dachte. Das man sich fragte, schon die ganze Zeit, wann dieser Mann, den man gerade wusch, zuletzt berührt, gehalten worden war.“

Liebevoll und aufopfernd kümmert sich Ingwer um die Großeltern. Hin und wieder muss er vor die Türe, einmal durchatmen, einen Kaffee trinken. Dörte Hansen beschreibt feinfühlend und detailreich, ohne jemals rührselig oder gar kitschig zu werden. Durch die Zeilen blitzt immer wieder eine zarte Leichtigkeit, die Einvernehmen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem herstellt.

„Ella knetete den Singvogel aus Plüsch, den er (Ingwer)mit Sönke letztes Jahr im Land & Freizeit-Markt gefunden hatte, als sie nach Mäusefallen suchten. Es hat Grünfinken gegeben, Rotkehlchen und Singdrosseln, aber es musste unbedingt die Meise sein. Jetzt zog er (Sönke) Ella schon seit Monaten mit ihrem Vogel auf, er machte jeden Tag denselben Witz. Du hest je wull een Meis! Zwei Alte kicherten, ein Plüschtier zwitscherte. Man wusste nicht, ob es zum Lachen oder Weinen war.“

In Brinkebüll gibt es viel Ungesagtes, Gerüchte und Geheimnisse, doch darüber spricht die Dorfgemeinschaft nicht. Dörte Hansen beschreibt dieses Schweigen wie eine Art zweite Muttersprache, die man lernt, wie man das Sprechen lernt. Schon die Kinder wissen, was man sagen darf und was nicht. Das macht die Handlung spannend, denn auch in Ingwers Familiengeschichte gibt es jede Menge Ungesagtes, dass für den aufmerksamen Leser nach und nach greifbar wird.

Kurz und knapp:

Der Roman „Mittagsstunde“ von Dörte Hansen ist in diesem Jahr eines meiner Lieblingsbücher. Es steht ganz oben auf meiner Empfehlungsliste und ich finde, das aus gutem Grund. Mittagsstunde ist ein fabelhafter, facettenreicher Roman, in dem die Autorin mit einem Höchstmaß an Feingefühl den Strukturwandel eines Dorfes und seiner Menschen nachzeichnet. Ich habe es lustvoll gelesen und dabei angstvoll auf das Ende geblickt, das unwillkürlich auf Seite 319 kommt.

 

Buchinformation

Dörte Hansen, „Mittagsstunde“
Penguin Verlag, München 2018
ISBN 978-3-328-60003-9

https://www.randomhouse.de/Verlag/Penguin-Verlag/71000.rhd

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