Das Land der Anderen
Den Roman „Das Land der Anderen“ der französisch-marokkanischen Autorin Leila Slimani hatte ich voll froher Erwartung in „meinem“ Buchladen bestellt. Ich verließ mich bei meiner Wahl auf die Qualitätsverheißung der Autorin, von der ich bereits die Romane „Dann schlaf auch du“ und „All das zu verlieren“ gelesen hatte. Beides spannende, gut geschriebene Bücher, deren Handlungsfäden, wie meine Recherchen ergaben, auf tatsächlichen Geschehnissen wurzeln. „Dann schlaf auch du“ schildert das Psychodrama einer Nanny, die die zwei ihr anvertrauten Kinder ermordet. Ein solcher Fall hatte sich einige Jahre zuvor in New York ereignet. Slimanis Debütroman „All das zu verlieren“ wurde durch die Enthüllungen über Dominique Strauss-Kahn inspiriert. Sie brachten Slimani auf die Idee, die Geschichte einer sexsüchtigen jungen Frau zu erzählen.
Auch der Roman „Das Land der Anderen“ ist keine reine Fiktion, sondern hangelt sich an der Lebensgeschichte Slimanis Großeltern entlang.
Warum geht es in „Das Land der Anderen“?
Der Roman erzählt, wie sich Mathilde und Amine im Jahr 1944 im Elsass kennenlernen und sich ineinander verlieben. Amine ist Marokkaner und steht als Offizier im Dienste der französischen Armee. Mathilde und Amine heiraten und die junge, lebenshungrige Französin geht, erfüllt von großen Erwartungen, mit nach Marokko. In der Nähe von Meknés lässt sich das junge Paar nieder und bewirtschaftet dort eine kleine Farm, die Amine von seinem Vater geerbt hat. Mathilde bekommt zwei Kinder und kämpft mit den Realitäten einer (Haus-)Frau in Marokko. Amine versucht seinem kargen Stück Land einen Ertrag abzutrotzen. Ernüchterung macht sich breit: Das geerbte Stück Land ist unfruchtbar und die „Mischehe“ zwischen einem Marokkaner und einer Französin löst in der Familie und der Gesellschaft Irritationen aus.
Für Aicha, seine kleine Tochter, pfropft Amine einen Zitronenzweig auf einen Orangenbaum und nennt ihn „Zitrangenbaum“. Wie sich herausstellt, sind die Früchte des Baumes bitter und ungenießbar.
„Wir sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite.“
Der „Zitrangenbaum“ im Garten der Belhajs steht als Bild für die Lebenssituation der Familie. Ab 1953 regt sich in Marokko, wie im benachbarten Algerien, die Unabhängigkeitsbewegung. Das Paar sitzt zwischen den Stühlen: Mathilde wird von den französischen Siedlern wegen ihrer Heirat mit einem Einheimischen geschnitten; Amine gibt vor, kein Problem mit den Franzosen zu haben, schließlich war er für Frankreich in den Krieg gezogen. Hinter der Fassade leidet Amine unter seiner Feigheit.
„Er war ein Feigling, und wie der schlimmste Feigling hatte er eine Höhle gegraben und sich darin versteckt in der Hoffnung, dass ihn dort niemand erreichte, niemand sah.“
Immer häufiger kommt es zu Terroranschlägen, es gibt Gewalt von beiden Seiten, die französischen Siedler sind nicht bereit, auf ihre Privilegien zu verzichten.
Amine beneidet seinen Bruder Omar um seinen Fanatismus, seine Fähigkeit sich ganz und gar der nationalistischen Sache zu verschreiben. Doch er, Amine, hat Verantwortung, hat Frau und Kinder. Er muss überleben.
„Also schob er seine Hände unter die Achseln, wie ein Mann, der geschworen hatte, sich nicht zu prügeln. Er kam sich vor, als lebte er in einer Welt, die ausschließlich von Feinden bevölkert war.“
Für Mathilde gelten die strengen Regeln der marokkanischen Gesellschaft nur bedingt. Da sie keine Marokkanerin ist, wird von ihr auch nicht verlangt, sich wie eine zu verhalten. So fährt sie Auto, schickt ihre Tochter gegen Amines Willen auf eine christliche Schule und bemüht sich, Rituale aus der französischen Heimat in den Alltag der Familie zu integrieren. Nur darf sie sich nicht einmischen oder sich über die Ungerechtigkeiten, besonders gegenüber Frauen, beschweren. Als sie die Freiheitsbestrebungen ihrer jungen Schwägerin Selma unterstützt, bestraft Amine sie hart. Ein Foto, das Selma zusammen mit einem jungen Franzosen zeigt, löst Amines ungezügelte Wut aus.
„Er starrte sie an, […] als er brüllte: „Ja, bist du vollkommen verrückt! Nie und nimmer wird meine Schwester einen Franzosen heiraten!
Er packte Mathilde am Ärmel und zerrte sie aus ihrem Sessel. […] „Du hast mich gedemütigt!“ Er spuckte ihr ins Gesicht und schlug sie mit dem Handrücken.“
„Das Land der Anderen“ zeigt Ungerechtigkeiten auf, ohne sie zu bewerten.
Die Erzählstimme begleitet die verschiedenen Figuren und schildert die Welt aus deren Perspektive. Die Protagonisten*innen werden nicht bewertet, verurteilt oder bemitleidet. Slimani zeichnet ein distanziertes Bild der Hauptfiguren und gerade das macht deren Verhalten erschreckend nachvollziehbar.
Was denkt der Textfan?
Der Roman „Das Land der Anderen“, verfasst in einer angenehm unaufgeregten Alltagssprache, liest sich spannend, obwohl das Buch mit wenig Handlung auskommt. Ich habe dem Buch jede freie Minute gewidmet, so hat mich die Geschichte gefesselt. Sie ist interessant, abwechslungsreich und gut verständlich geschrieben. Meine Befürchtung, dass bestehende Vorurteile zu Ehen zwischen Christinnen und Muslimen über Gebühr bemüht werden, stellten sich als unbegründet heraus. Der Roman kommt glücklicherweise ohne Schwarz-Weiß-Malerei aus und das macht ihn so besonders. Ein fulminanter Roman über Menschen, ein Land und eine besondere Epoche zu dem ich mir eine Fortsetzung wünsche.
Gerne würde ich mich mit der Autorin über den Titel des Buches unterhalten. Wer sind diese Anderen? Sind es die Franzosen oder die Marokkaner? Oder die Männer, die in Marokko genauso wie im Frankreich der 50er Jahre das Sagen haben? Wahrscheinlich alles eine Frage der Perspektive.
Über die Autorin
Leila Slimani, 1981 in Rabat geboren, wuchs in Marokko auf und studierte an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. Für den Roman »Dann schlaf auch du« wurde ihr der renommierte Prix Goncourt zuerkannt. »All das zu verlieren«, ebenfalls preisgekrönt, erscheint in 25 Ländern. Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs.
Buchinformation
Leila Slimani :“Das Land der Anderen“
Aus dem Französischen von Amelie Thoma.
Luchterhand, München 2021.
ISBN 978 3 630 87646 7
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