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  • Gepostet am 1. April 2022

Löwenherz

Wie ist das, wenn man auf das Leben des Bruders schaut? Ein Leben, das viel zu kurz war und bei Monika Helfer Fragen hinterlassen hat. Wer war dieser Richard Löwenherz, der sich mit gerade dreißig Jahren das Leben nimmt?

Monika Helfers dritter Roman über ihre Familie in Vorarlberg

Im Roman „Die Bagage“ von 2020 macht sich Monika Helfer auf die Spuren ihrer Familie, die von allen nur die Bagage genannt wird. Sie erzählt die Geschichte ihrer Herkunft und zeichnet ein kraftvolles Bild ihrer Großmutter und ihrer Mutter Grete. In „Vati“, ein Jahr später veröffentlicht, geht die Schriftstellerin dem Leben ihres Vaters nach, dessen Einsamkeit durch zwei Unglücke geprägt ist, der 2. Weltkrieg und der Tod seiner Frau. Ihren neuen Roman „Löwenherz“, im Januar 2022 ebenfalls im Hanser Verlag erschienen, widmet die Autorin ihrem Bruder Richard, der sich mit dreißig Jahren das Leben nahm. Die Leser*innen begleiten Richards Geschichte und erfahren gleichzeitig einiges aus dem Leben der Autorin, von der Trennung vom ersten Mann, von der Liebe zum zweiten und die Rolle des Bruders.

„Löwenherz“ – die Lebensgeschichte eines Sonderlings

Als Monika Helfers Mutter stirbt, bricht die Familie auseinander. Der kleine Bruder wächst- er war damals fünf Jahre alt – bei der einen Tante auf, die Schwestern bei der anderen. Die Geschwister wussten voneinander, blieben sich jedoch fremd.

„Der Bruder gehörte nicht mehr zu uns. Wie unsere Mutter nicht mehr zu uns gehörte. Weil sie tot war. Wie unser Vater nicht mehr zu uns gehörte, weil er sich in einer Klosterzelle versteckte und sich dort Suppe servieren ließ zwischen seinen Büchern.“

Nach Richards Tod schaut Monika Helfer genauer hin: Wer war dieser zurückgenommene, menschenscheue, herzensgute, fast naive Mann?

Richard, der gelernte Schriftsetzer, ist ein begabter Maler. Seine Liebe gilt den Tieren, ganz besonders seinem Hund Schamasch, Menschen interessieren ihn kaum. Als Erwachsener ist Richard gerne im Haus der Schwester, zwischen den beiden entwickelt sich eine Verbundenheit, die jedoch zerbrechlich bleibt. Mit Monika Helfers zweitem Mann, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, verbindet Richard eine stille Männerfreundschaft.

Richards gutmütige Art erkennt die schwangere Kitti, bereits Mutter eines kleinen Mädchens, sofort, als er ihr zufällig begegnet. Sie nutzt die unerwartete Gelegenheit und fragt ihn, ob er die Kleine für ein paar Tage zu sich nehmen könne, sie bräuchte gerade Hilfe. Richard willigt ein. Das Mädchen, Putzi genannt, wächst Richard rasch ans Herz, sie leben zusammen wie Vater und Tochter. Für Richard ist es das Selbstverständlichste auf der Welt und er verschwendet keinen Gedanken daran, dass Kitti das Kind zurückholen könnte.

Als Richard Tanja, eine Anwältin, kennenlernt, scheint es, als habe er die passende Frau fürs Leben gefunden. Sie heiraten und Tanja bemüht sich fürsorglich um Putzi. Das Kind zu adoptieren, ist für Tanja der logischste Weg, um Klarheit in die verworrene Situation zu bringen. Den Kontakt zu der Mutter aufzunehmen, entpuppt sich jedoch als ein fataler Fehler. Der Brief, den Tanja an Kitti schreibt, erinnert die junge Frau – die inzwischen ein weiteres Kind bekommen hat – daran, dass da ja noch ihre Tochter ist. Umgehend taucht sie in Gesellschaft eines Anwalts und zweier Kraftprotze bei Richard auf und macht unmissverständlich klar, dass sie Putzi jetzt und sofort mitnimmt. Richard sieht hilflos zu, wie Kitti das Kind aus der Wohnung zerrt.

„Papa“, schrie sie, „Papa, Papa! Hilfe, Papa!“ Kitti hielt sie so hoch am Arm, dass sie auf einem Bein hopsen musste, sie war barfuß.“

Richard ist 25, als ihm Putzi weggenommen wird. Zurück bleibt ein gebrochener Mann, dem jeder Lebenssinn abhandengekommen war. Fünf Jahre später wählt Richard den Freitod.

Monika Helfer gewährt Einblicke

In „Löwenherz“ geht es nicht nur um den Bruder Richard. Eine ebenso zentrale Rolle nimmt die Schwester und damit die Autorin ein. Monika Helfer führt uns durch Richards Lebensgeschichte und eröffnet uns gleichzeitig den Blick auf ihr eigenes Leben. Wir erfahren von ihrer ersten Ehe, ihrem zweiten Mann, ihren Kindern und ihrer vorsichtigen Annäherung an den Bruder. Eine Annäherung, die von Zweifeln gekennzeichnet ist.

„Monika Helfer macht aus Lebenserinnerungen Literatur.“

Monika Helfer gewährt uns Einblicke in den Schreibprozess. Sie zeigt die moralischen Bedenken auf, die sie durchlebt, während aus ihren Erinnerungen Literatur entsteht. Sie lässt uns an den Gesprächen teilhaben, die sie mit ihrem Mann über den sich entwickelnden Roman führt und die ihre Zweifel offenbaren.

Alle drei Romane von Monika Helfer habe ich mit Freude gelesen. Sie sind mir eine Bestätigung dafür, dass jedes Leben Geschichten und Begebenheiten bereithält, die es verdient haben, niedergeschrieben zu werden. Ich wünschte, ich könnte es so reflektiert und lebendig erzählt wie Monika Helfer!

Monika Helfers „Familienbücher“ sind unabhängig voneinander lesbar. Wer jedoch das komplette Leseerlebnis haben möchte, dem empfehle ich, mit „Die Bagage“ zu beginnen.

Über die Autorin

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, wuchs in Vorarlberg auf. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Monika Helfer hat vier Kinder, zwei davon aus ihrer 1981 geschlossenen Ehe mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier. Helfer und Köhlmeier leben in Vorarlberg.

Buchinformation

Monika Helfer: „Löwenherz“
1. Auflage 2022
Carl Hanser Verlag, München
ISBN 978 3 446 27269-9

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