Das Leuchten in mir
„Meine bisherigen Tage waren die kleinen Kieselsteine eines wohlgeordneten Lebens gewesen, eines alten Versprechens, vorgezeichneten Bahnen zu folgen, vorgezeichnet von anderen, die an perfekte Wege oder wenigstens an tugendhafte Lügen glaubten. Meine künftigen Tage versprachen stürmisch zu werden.“
Aha, denkt der Leser, das ist ein Klassiker. Er hat die ersten Seiten des Romans „Das Leuchten in mir“ von Gregoire Delacourt gelesen und findet sich in einer altbekannten Geschichte wieder: Eine glücklich verheiratete Frau mittleren Alters verliebt sich in einen Fremden. Ein klassisches Thema und doch anders, überraschend und intensiv.
Emma ist fast vierzig und seit achtzehn Jahren mit Olivier verheiratet. Mit ihren drei Kindern leben sie ein fast perfektes Bilderbuchleben, es könnte kaum besser sein. Dass etwas Entscheidendes in ihrem Leben fehlt, merkt Emma erst, als ihr Blick in einer Brasserie auf den von Alexandre trifft.
„Dieses nackte, ehrliche Gesicht, das hinter einer Baumwollserviette hervorkam, hat mich unendlich verwirrt, hat mich in einem Augenblick aus der Ruhe meines glücklichen Lebens, aus seinem beruhigenden Wohlbehagen gerissen und mich ganz dicht an ein neues Feuer geführt.
An den Funken des Verlangens.“
Für Alexandre wird Emma alles riskieren, alles aufgeben. Emma beschließt mit ihrem alten Leben zu brechen und gemeinsam mit Alexandre fortzugehen. Ihre Familie wendet sich bestürzt und verletzt von ihr ab, was sie jedoch nicht abzuhalten vermag.
„Ich will nur versuchen, die Mechanik der Katastrophe zu analysieren. Zu verstehen, warum ich später die Herzen derer, die ich liebte, für immer zerrissen habe.“
Doch das Schicksal meint es nicht gut mit den Liebenden. Es passiert das Unfassbare und Emmas Leben bekommt eine weitere Wendung. Emma muss, schockiert durch den Verlust, der ihr wiederfährt, auf sich allein gestellt für die Folgen ihrer Entscheidung geradestehen.
Das Buch entwickelt einen enormen Sog, einmal begonnen, kann man es nur schwer zur Seite legen. Die Erzählperspektive aus der Sicht Emmas schafft eine ganz besondere Nähe. Man fühlt mit der Protagonistin, wird ein Teil von ihr. Wie ist das mit einer Frau, die ihrem Verlangen folgt und dafür ihre Familie im Stich lässt? Muss man sie nicht ablehnen, ihren Egoismus verurteilen? Delacourt führt den zweifelnden, um ein Urteil ringenden Leser so tief in die Gefühlswelt der Emma, dass ihre Zerrissenheit und ihre Sehnsucht unmittelbar spürbar sind. Da bleibt wenig Raum für Verurteilungen. Letztendlich ist es das Leben selbst, das Emma im weiteren Verlauf der Handlung prüft und gleichzeitig beschenkt.
Die Geschichte von Emma spielt im Hier und Jetzt. „Das Leuchten in mir“ wird in drei Teilen erzählt, wobei jeder Teil einen eigenen Spannungsbogen besitzt, in dem jeweils ein unterschiedlicher Konflikt im Mittelpunkt steht. Wie und ob sich diese Konflikte lösen, möchte der Leser unbedingt erfahren, es treibt ihn unweigerlich weiter durch die melancholischen und poetischen Zeilen Delacourts. Die Kapitelzählung verläuft im ersten Teil rückwärts bis zu dem Zeitpunkt, der die entscheidende Wende im Leben der Protagonistin darstellt. Ab dann wird vorwärts gezählt. Die Kapitel sind manchmal kurz – ein oder zwei Sätze, gefüllt mit Metaphern oder Zitaten. Der Geschichte „Die Ziege des Monsieur Segiun“ von Alphonse Daudet (1866) kommt dabei eine besondere Rolle zu. Eine Geschichte aus Emmas Kindheit, in der eine kleine Ziege für die Sehnsucht nach Freiheit nach einem kurzen Glück mit dem Tod bezahlt. Immer wieder wird kurz in diese Geschichte hineingeblendet. Im Anschluss des Romans findet sie der Leser komplett abgedruckt.
Grégoire Delacourt wurde 1960 im französischen Valenciennes geboren und lebt mit seiner Familie in Paris. Sein Bestseller „Alle meine Wünsche“ wurde in fünfunddreißig Ländern veröffentlicht. Im Atlantik Verlag erschienen von ihm zuletzt der Spiegel-Bestseller „Die vier Jahreszeiten des Sommers“ (2016) und „Der Dichter der Familie“ (2017).
Kurz und knapp:
Der französische Autor Grégoire Delacourt erzählt in seinem Roman „Das Leuchten in mir“ mit starkem, poetischem Ausdruck über eine große Leidenschaft: Eine Frau gibt ihre Familie auf, um mit einem fast Fremden ein neues Leben zu beginnen. Es ist ein Roman über die Zerbrechlichkeit vermeintlich feststehender Lebenspläne und die Stärke der Liebe, die mehr aushält, als es in dieser Geschichte immer wieder den Anschein hat.
Auch wenn das Thema des Romans nicht neu ist, so hat mich doch die intensive, poetische Erzählweise des Autors und der intelligente Spannungsaufbau gepackt. Es kann schon sein, dass manchmal etwas zu viel Melancholie und Dramatik im Spiel ist. Wer das Buch liest – was ich empfehlen würde – mag das selber beurteilen. Für Emma bleibt ein zärtliches Gefühl.
Buchinformation
Gregoire Delacourt, „Das Leuchten in mir“
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 1. Auflage 2018
ISBN 9783455002737
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