Das verborgene Wort
Die Autorin Ulla Hahn ist in Monheim am Rhein aufgewachsen. Ich übrigens auch. Genauso wie meine Mutter, meine Großmutter, meine Urgroßmutter und zig Generationen zuvor. Merkwürdig, dass ich diesen Roman erst jetzt gelesen habe, denn immerhin ist dieses fast 600 Seiten starke Werk bereits 2001 erschienen. Die Handlung spielt in den 50er und 60er- Jahren, der Zeit, in der meine Mutter eine junge Frau war. Kann sein, dass mich dieses Buch deshalb noch nicht erreicht hat. Irgendwie dachte ich, die Geschichte aus einer muffigen rheinischen Kleinstadt hätte nichts mit mir zu schaffen. Beim Lesen wurde mir klar, dass das nicht stimmt.
Hier im Dorf ihrer Kindheit hat Ulla Hahn die Handlung ihres Romans „Das verborgene Wort“ verortet. Hildegard Palm, die Hauptfigur der Geschichte, wächst in ärmlichen Nachkriegsverhältnissen auf. Ihr Vater ist ungelernter Fabrikarbeiter, ihre Mutter Putzfrau, die Großmutter eine strenge Katholikin. Der Großvater fällt aus dem familiären Rahmen, verbringt Zeit mit Hildegard und deren jüngerem Bruder. Mit den Kindern macht er ausgedehnte Spaziergänge an den Rhein. Er ist es, der ihnen wundersame Geschichten erzählt, die die Fantasie der kleinen Hildegard anregen. Da sind z.B die Buchsteine – Steine, die angeblich Geschichten erzählen.
„Es gab einmal, erklärte der Großvater, einen Stein, der alles verwandelt. Er leuchtete im Dunkeln und im Hellen. Als er aber vom Himmel auf die Erde gefallen sei,[…], seien tausend und aber tausend Steinchen abgesplittert und hätten sich über unsere Welt verstreut. […] Dies seien die Buchsteine, die Boochsteen. Wer diese Splitter finde, sei selbst ein Licht und leuchte in der Welt. Sei gut und schön und ein Mensch, den alle lieben.“
Die kleine Hildegard ist fasziniert, die Wörter beflügeln ihre Fantasie und lassen sie für eine Zeit das einengende Elternhaus vergessen.
„Waat bes dä Papp no Huus kütt,“ (Warte, bis der Vater nach Hause kommt) droht eine unterwürfige Mutter ihrer Tochter. Unartigkeiten ahndet der Vater mit Schlägen und Schikane, den Rohrstock, stets griffbereit hinter der Uhr.
„Die Tante schenkte mir zum ersten Schultag einen Bleistift. […] Ich schenkte dem Bruder einen Kringel aus meiner Schultüte. Abends zeigte mir der Vater das neue Stöckchen hinter der Uhr. Es war mit mir gewachsen. Mindestens doppelt so dick wie die Schilfrohrstöckchen aus der Kindergartenzeit […]“.
Hildegard wird diesen Stock oft zu spüren bekommen. Umso häufiger sich der Vater seiner in der Schule erfolgreichen Tochter unterlegen fühlt, desto härter fallen seine Bestrafungen aus.
Dem Leser wird schnell klar, wer in dieser Geschichte zugewandt, liebevoll und offen ist und wer nicht. Mit Hildegard fühlt man mit und das vom ersten Moment an. Das Verhalten der Eltern erfüllt mich bei der Lektüre mit Grausen. Wie kann man so mit seinem Kind umgehen, wie grausam muss man sein? Nicht anders ergeht es mir mit vielen Dorfbewohnern. Der fantasievolle Großvater und die liebevolle, gerechte Schwester Aniana, Hildegards Kindergärtnerin, sind Lichtblicke im Leben des Kindes.
Der fiktive Handlungsort Dondorf hat einige Gemeinsamkeiten mit der rheinischen Kleinstadt Monheim, in der Ulla Hahn aufgewachsen ist. Ich zumindest fühle mich an meinen Heimatort erinnert. Wenn die Autorin Spaziergänge hinunter zum Rhein schildert oder vom Kirmesplatz berichtet, dann sind da die Bilder meiner Kindheit, lebhaft und klar – auch wenn ich vieles erst Anfang der 70er-Jahre bewusst erlebt habe.
Dondorf verkörpert den rheinischen Provinzialismus der Nachkriegszeit, die spießige Atmosphäre aus Katholizismus und Proletariermilieu, Wohlstandsstreben, Neid und Nachbarschaftstratsch.
„Wer im Dorf nicht dazugehörte war ein Müpp. Es gab eingeborene, dreckige Müppen, evangelische Müppen und die Flüchtlingsmüppen aus der kalten Heimat.“
„Müpp“, dieses Wort habe ich als Kind oft gehört. Mit „Müpp“ bezeichnete meine Mutter Leute, die nicht sauber und ordentlich waren. Manchmal meinte sie damit auch Menschen, die einfach nur anders waren als wir.
Hildegard wünscht sich nichts sehnlicher, als aus dieser Welt auszubrechen, doch es besteht wenig Hoffnung. Die Eltern verweigern ihr den Besuch des Gymnasiums und zwingen sie zu einer Ausbildung im Büro zum Industriekaufmannsgehilfen „op dr Papp“, der Pappenfabrik, die es in Monheim tatsächlich gab.
Aus „Heeldejaard“ (Hildegard) wird später Hilla. Den rheinischen Dialekt gewöhnt sich die Heranwachsende – zum Ärger der Eltern – nach und nach ab. Hildegard will kein „Kenk von em Prolete“ (Proletenkind) mehr sein, sie sucht die Zweisamkeit mit ihren Büchern und legt sich selbst ein Buch mit „schönen Sätzen“ an – gespickt mit Zitaten von Schiller, Goethe, Kleist oder Fontane. Die Literatur ist Weg zur Selbstfindung, zum Aufbruch in eine andere Welt. Diesen selbst beschrittenen Weg lässt Ulla Hahn auch ihre Protagonistin Hildegard Palm gehen.
Hilla wächst zu einer unglücklichen jungen Frau heran, nicht mal mehr ihre Bücher trösten sie. Alkohol wird ihr Begleiter und verschafft Hilla kleine Auszeiten. Rechtzeitig taucht der ehemalige Lehrer Rosenbaum auf. Er erkennt Hillas Problem.
„Sie, Fräulein Palm. Sie trinken. Dass die Flasche ein Geschenk war, können sie mir nicht weismachen. Ich möchte nicht wissen, was sie heute in ihrem Beutel haben. Wahrscheinlich schon wieder Nachschub. Sie bewegen sich auf einen Abgrund zu. Sehen Sie dem ins Auge. Wollen Sie als Trinkerin enden?“
Rosenbaum setzt sich dafür ein, dass Hilla ihr Abitur nachholt. Gemeinsam mit dem Pfarrer überzeugt er die Eltern, ihre Tochter doch auf das Gymnasium zu schicken.
„Zuletzt sah ich auch den Vater an. Er saß da wie einer, der gerade von seinem Hauptgewinn erfahren hat. Als hätte man einem Bauern, der einen Traktor braucht, gerade ein Medaillon mit einem Splitter vom heiligen Kreuz überreicht.“
Ulla Hahn überzeugt in ihrem Roman „Das verborgene Wort“ durch präzise Detailbeschreibungen und treffend charakterisierte Figuren. Der wohlplatzierte rheinische Dialekt hat mich in die oft kleinbürgerliche Welt meiner Kindheit zurückkatapultiert. Ich frage mich, ob ein Sachse oder Bayer dieses Buch auch so locker heruntergelesen hätte.
Man sieht mit einem scharfen Blick in eine andere Welt, in eine Zeit, die längst vergangen, aber deren Überbleibsel in den Köpfen vieler Zeitgenossen noch präsent ist. Was haben diese Überbleibsel mit mir zu tun? Ich selber bin 1962 in Monheim geboren. Tochter einer Katholikin und eines Protestanten. „Gut, der Vater ist ein Protestant, Lieselotte, aber wenn du willst, dann können wir das Kind wenigstens katholisch taufen.“ Gerne erzählt meine Mutter diese Geschichte – eine von vielen aus ihrer Jugend –, als sie mit mir im Kinderwagen durchs Dorf ging und den Pfarrer traf. Welche Scheinheiligkeit!
Die Jugend meiner Mutter hat viele Parallelen zu der Geschichte, die Ulla Hahn in ihrem Roman „Das verborgene Wort“ erzählt. Das Buch hat mir einen tiefen Einblick gewährt, mir vieles verständlicher gemacht. Ich bin heilfroh, dass meine Mutter es mir ermöglicht hat, dieser kleinbürgerlichen Welt zu entfliehen.
Über die Autorin:
Ulla Hahn, geboren 1946 in Brachthausen, wuchs in Monheim am Rhein auf. Die promovierte Germanistin war Lehrbeauftragte an den Universitäten Hamburg, Bremen und Oldenburg, anschließend bis 1989 Literaturredakteurin bei Radio Bremen. 1994 hatte sie die Heidelberger Poetik-Dozentur inne. Ihr lyrisches Werk wurde u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Für ihren Roman „Das verborgene Wort“ (2001) erhielt sie den Deutschen Bücherpreis. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Hamburg. Das ehemalige Elternhaus der Schriftstellerin Ulla Hahn ist heute ein städtisches Literaturhaus für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Kurz und knapp:
Ulla Hahn beschreibt in ihrem autobiografisch geprägten Roman „Das verborgene Wort“ eine Kindheit in einer rheinisch-katholischen Familie. Der Vater streng und zu Gewalt neigend, die Mutter unterwürfig und immer darauf bedacht, was die Nachbarn denken. Ein schwieriges Umfeld für die begabte, intelligente Hilla, die sich in die Welt der Bücher flüchtet. Als die Eltern der Heranwachsenden verbieten, das Abitur zu machen, droht Hilla daran zu zerbrechen.
Ein leiser Schauer lief mir hin und wieder den Rücken hinunter, so nah hat mich die Lektüre des Buches an meine eigene Familiengeschichte herangespült. Lesenswert!
Buchinformation
Ulla Hahn, „Das verborgene Wort“
Penguin Verlag
ISBN 978-3-328-10540-4
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