rhdr
  • Gepostet am 30. Mai 2019

Der Stotterer

Lieber Charles Lewinsky,

das Buch „Der Stotterer“ hat mir eine liebe Freundin geschenkt. Sie hatte eine Rezension im Radio gehört und an mich gedacht: Ich, die Viel-Leserin, würde dieses Buch mögen.

Das Buch war meine Rettung, denn mein Büchervorrat war zur Neige gegangen. Ein untragbarer Zustand. Glücklich schlug ich das Buch auf und begann zu lesen.

„Okay. Natürlich mache ich mit. Ich wäre dumm, wenn ich es nicht täte. Halten wir unsere Abmachung fest: Sie sorgen dafür, dass ich den Posten in der Bibliothek bekomme, und ich verpflichte mich, Geschichten aus meinem Leben für Sie aufzuschreiben. Weil ich doch – Ihre Formulierung – eine Begabung für das Schreiben habe.“

Mit diesen Sätzen beginnt Ihr Roman, Herr Lewinsky. Eine Begabung für das Schreiben hat der Ich-Erzähler und Protagonist Johannes Hosea Stärckle in der Tat. Er, ein Trickbetrüger, der im Gefängnis sitzt, vereinbart einen Deal mit dem Gefängnisseelsorger: Stärckle bekommt den Bibliotheksposten und liefert dem Pfarrer, den er in seinen Briefen „Padre“ nennt, als Gegenleistung Geschichten. Eine geniale Idee, Herr Lewinsky, ein wirklich gelungener Rahmen.

„Wo soll ich anfangen? In der Jugend nehme ich an. Meine Familie war kleinkariert wie ein Kreuzworträtsel. Eins waagrecht, sechs Buchstaben: Natürliche Feinde jedes Kindes. Eltern. Mein Vater kämmte sich die Haare über seine Glatze. Mehr gibt es über seinen Charakter nicht zu sagen. […]Meine Mutter trug Kittelschürzen. Damit ist auch sie umfassend beschrieben.“

Stärckle schreibt dem Padre viele Geschichten auf. Doch was sind das für Geschichten? Allesamt erfunden – oder wahr? Das ist für mich schwer zu entscheiden, zumal nur Stärckle allein zu Wort kommt. Ein eitler Schreiber, der elegant, ironisch, präzise formuliert und mit dem geschriebenen Wort seine Umwelt manipuliert. Mag ich diesen Stärckle oder mag ich ihn nicht? Sie haben da eine Figur erschaffen, mit der man sich nicht gut identifizieren kann. Das wissen Sie, nicht wahr? Sie packt mich für einen Moment und stößt mich in der nächsten Textpassage von sich. Stärckle ist und bleibt ein zwielichtiger Charakter.

„Seine Naivität (die des Padres) ist mir nützlich. Solange er einen besseren Menschen aus mir machen will, geht es mir in dem Scheißladen besser. Es ist ja nicht schwierig, mich so zu geben, wie er glaubt, dass ich bin. […] Was für ein Sorte Träume möchten Sie von mir hören, Padre? Ich schreibe sie gern für Sie auf.“

Der Häftling spielt sein Spiel, nicht nur mit dem Padre. Der Autor, also Sie, lieber Charles Lewinsky, spielt wiederum mit uns, den Lesern, mit mir. Nur eins scheint mir klar zu sein: Der Stotterer, der wegen seines Sprachfehlers zum Schreiber geworden ist, hatte eine unglückliche Kindheit, geprägt von Gewalt und Missbrauch.

Bachofen, der geistige Führer der strengen Sektengemeinschaft, in der Stärckle aufwächst, versucht den Stotterer durch Schläge zu therapieren. Vergebens. Weitaus drastischere Mittel setzt Bachofen bei einem homosexuellen Jungen ein. Das alles berichtet Stärckle ausführlich und sprachgewandt in seinen Briefen an den Padre – wenn denn die Geschichten über Bachofen der Wahrheit entsprechen. Oder sollen sie nur den Voyeurismus des Gefängnisseelsorgers befriedigen?

Wer weiß das schon? Ich jedenfalls nicht. Ich habe zwischendurch den Blick für Wahrheit und Lüge verloren. Einmal wiegen Sie mich, lieber Lewinsky, in Sicherheit, lassen mich eine Geschichte glauben, und stürzen mich sofort im nächsten Kapitel wieder in Zweifel. Ich habe lustvoll weitergelesen, von Brief zu Brief, von Tagebucheintrag zu Tagebucheintrag, von Fingerübung zu Fingerübung. Die Geschichten, die hier meisterhaft zu Papier gebracht wurden, haben mich süchtig gemacht.

Lieber Herr Lewinsky, Sie zeigen, wie viel Macht das geschriebene Wort haben kann. Sie lassen Stärckle Leben erfinden, manipulieren und zerstören. Allein durch Briefe – faszinierend und erschreckend zugleich. Seit ich Ihr Buch gelesen habe, schaue ich kritischer auf das, was mir täglich in geschriebener Form vor das Auge flimmert. Wahr oder gelogen? Richtig oder falsch?

„Geschichtenerfinder müssen keine Bekenner sein, sondern gute Lügner. Wer ein Märchen erzählt, muss an die Feen und sprechenden Tiere nicht glauben. Er muss sie nur so beschreiben können, dass der Leser daran glaubt, und selbst das nur für einen kurzen Moment der Lektüre.“

Langweilig wird es mit dem Stotterer nie. Dafür haben Sie trefflich gesorgt, Herr Lewinsky! So ganz nebenbei entwickelt sich noch eine Krimihandlung im Gefängnis. Ihr Protagonist wird in den internen Drogenschmuggel hineingezogen. In seinen Tagebucheinträgen macht mich Stärckle wirklich glauben, dass er ein Opfer ist. Doch ist er es wirklich? Oder steuert er mit seiner Schreibkunst sogar den „Advokaten“, den mafiösen Chef im Knast?

Und dann die Sache mit dem Schreibwettbewerb: Stärckle nimmt mit Hilfe des Gefängnispfarrers daran teil und belegt prompt den zweiten Platz. Es meldet sich ein Verleger, der Stärckles Memoiren herausgeben möchte. Der, nicht dumm, zieht für andere kaum bemerkbar die Strippen und schreibt genau das, was der Verleger lesen möchte.

„Eine Rangliste der Dinge, die meine Kunden in ihren Büchern haben wollen: 1. Sex, 2. Abenteuer, 3. Exotik. […] Die drei Elemente müssen sich liefern lassen.“

Johannes Hosea Stärckle (Herr Lewinsky, wie um Gotteswillen sind Sie auf diesen Namen gekommen?) wird zum Helden, zum begehrten Debütanten. Vermutlich sogar zum Bestsellerautor, wenn auch mit etwas mafiösem Rückenwind.

„Eine Nachricht vom Advokaten. […] Ihr seid jetzt quitt, lässt er dir ausrichten. Sie hätten genug Bücher bestellt, um den Erfolg zu garantieren.“

Herr Lewinsky, dass ich einen Blog schreibe, wissen Sie sicher nicht. Ich rezensiere dort Bücher. Bücher, die mir gefallen haben. „Der Stotterer“ hat mir gefallen. Also werde ich etwas über Ihren Roman schreiben, nur damit Sie Bescheid wissen.

So, oder so ähnlich, wird das dann wohl klingen:

Liebe Bücherfreunde, lest dieses Buch: Es wird euch verwirren, belustigen, beängstigen, nachdenklich stimmen. Es wird euch Spaß machen. Ein Roman wie ein Irrgarten, in dessen 416 Seiten man sich gerne verläuft. Einen Protagonisten zum Liebhaben werdet ihr nicht finden, jedoch ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie viel Macht das geschriebene Wort haben kann.

Darum geht es Ihnen im Kern, Herr Lewinsky, stimmt´s? Leser sollten vorsichtig sein.

Ich freue mich schon auf Ihr nächstes Buch. Vielleicht besuchen Sie mich mal auf meinem Blog? Es wäre mir eine große Ehre.

Viele Grüße

Karin Kricsfalussy

 

Über den Autor

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert. Nach Tätigkeiten als Dramaturg und Regisseur arbeitet er seit 1980 als freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman Melnitz. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.

Buchinformation

Charles Lewinsky „Der Stotterer“

Verlag Diogenes, 8. Auflage 2018

ISBN 978-3-257-07067-5

 

Blogbeitrag teilen:

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ihr Kommentar erscheint nach der Prüfung durch unseren Administrator.

Weitere Beiträge:

© textfan.de

Nach oben scrollen