Ich bleibe hier
Fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges herrschen an einem kleinen Flecken mitten in Europa wieder kriegsähnliche Zustände. Menschen werden enteignet und vertrieben, ihre Häuser zerstört. Alle Bewohner Grauns, einem Dorf an der österreichisch-italienischen Grenze, verlieren ihre Heimat. Der italienische Autor Marco Balzano erzählt in „Ich bleibe hier“ die tragische Geschichte des Ortes.
Die Geschichte des Dorfes Graun am Reschensee
Seit 1922 wütet in Italien und somit auch in Südtirol der Faschismus. Im Jahre 1939 reicht der Großkonzern „Montecatini“ ein Projekt ein: Zur Stromgewinnung sollen Reschen- und Graunersee um 22 Meter aufgestaut werden. Die Bevölkerung der Dörfer Reschen und Graun werden bei den Plänen völlig übergangen. Als der Krieg das bereits begonnene Bauvorhaben verzögert, glauben die Bewohner Grauns ihre Höfe und Häuser wären gerettet. 1947, nur zwei Jahre nach Kriegsende, verkündet die Montecatini, dass die Arbeiten am Stauprojekt unverzüglich wieder aufgenommen werden.
1950 im Sommer werden die Schleusen geschlossen und der Reschensee gestaut. 677 Hektar Grund und Boden sind überflutet, hunderte Familien aus Graun und Reschen verlieren ihrer Existenz, manche von ihnen wandern aus.
Die Volksschullehrerin Trina entscheidet: „Ich bleibe hier.“
Dies ist der historische rote Faden, an dem sich Balzanos Erzählung entlang hangelt. Dabei ist der Bau des Staudamms nicht das einzige Drama, das die Menschen von Graun erleiden. 1939 vereinbaren Hitler und Mussolini, dass sich alle Südtiroler entscheiden müssen, ob sie ins nationalsozialistische Deutsche Reich auswandern oder als Bürger zweiter Klasse in ihrer Heimat bleiben wollen.
„Sie behaupteten, Hitler würde sie reich machen, […] Doch man konnte ihnen von den zusammengepressten Lippen, den geballten Fäusten ablesen, dass es grausam war, so fortzugehen. Grausam für die jungen Frauen, für die Kinder, und noch mehr für die Alten, denen man die besten Plätze auf dem Wagen zuwies, mit der Bitte, sie sollten wenigstens versuchen zu schlafen. Während ein Wagen nach dem anderen zum Bahnhof Bozen oder Innsbruck abfuhr, wo die Züge des Führers warteten, senkte sich auf der Straße von Graun die Stille der Totenglocken.“
Marco Balzano erzählt die fiktive Geschichte aus der Sicht der Volksschullehrerin Trina. Sie ist in Graun aufgewachsen, sie will in Graun bleiben, mit ihrem Ehemann und den beiden Kindern. Der Roman ist der lange Brief Trinas an ihre verschwundene Tochter, über deren Verlust sie nicht hinwegkommt.
Marco Balzano erzählt über das Verschwinden, über das Verschwinden eines Kindes, eines Dorfes, einer Heimat und er erzählt über den Widerstand.
Als das italienische Regime Trina verbietet, die Kinder des Dorfes in deutscher Sprache zu unterrichten, setzt sie den Unterricht klandestin (= geheim/heimlich) fort, in Kellern und Scheunen. Als Tausende von Arbeitern in Graun anrücken, um den Staudamm zu errichten, stemmen sich Trina und ihr Mann Erich mit aller Kraft gegen die Vernichtung des Dorfes.
Die Politik zerreißt Trinas Familie. Die Tochter schließt sich heimlich Trinas Schwägerin an, die nach Deutschland geht. Der Sohn entwickelt sich zum kriegsbegeisterten Hitler-Anhänger.
Und da ist der Krieg. Als Erich desertiert und in die Berge flüchtet, begleitet ihn Trina. Sie überleben die Zeit des Hungers und der ständigen Angst, entdeckt zu werden, und kehren bei Kriegsende nach Graun zurück.
„Das Vieh graste im Tal, und die Wagen der Bauern, die am Waldrand das frische Heu einbrachten, waren noch dieselben. Erich sah mich mit vor Müdigkeit geröteten Augen an. Sein Bart war weiß und struppig.“
Ein Krieg lag hinter ihnen, der Kampf gegen den Staudamm und die Ignoranz der Dorfbewohner ging weiter.
„Die Männer sagten, er solle endlich Ruhe geben, seit mehr als dreißig Jahren sei doch schon nichts daraus geworden. […] Die Alten antworteten ihm, sie seien alt, alt und müde, und nun seien die Jungen an der Reihe, sich die Ärmel hochzukrempeln. Doch die wenigen jungen Leute, die es noch gab, speisten ihn mit der Bemerkung ab: „Ein Grund mehr, um von hier wegzugehen.“
Marco Balzanos Roman „Ich bleibe hier“ hat mich beeindruckt. Ja, so war das damals, keine Fiktion, nein, ein Teil europäischer Geschichte. Die Geschehnisse durch Trinas Augen zu sehen, schafft Nähe und Betroffenheit. Balzano erzählt die Geschichte von Graun im ruhig sachlichen Ton einer Chronik und in einfacher Sprache. Trinas Geschichte ist realistisch und glaubwürdig. So glaubwürdig, dass ich das Buch nicht zur Seite legen konnte. Je nüchterner Trina in der Beschreibung ihres Lebens wird, umso mitgenommener wurde ich als Leserin. Wie halten Menschen solche Schicksale aus, frage ich mich. Ich, die gemütlich in meinem Lesesessel sitzte, habe ein mulmiges Gefühl. Ähnliche Schicksale ereilen Menschen weltweit, im Regenwald, in China, Afrika oder direkt vor der Haustüre. Nicht vor siebzig Jahren – heute!
Unbedingt lesen!
Marco Balzanos Roman „Ich bleibe hier“ ist ein unbedingt lesenswertes Stück Zeitgeschichte, ein Drama, ohne melodramatisch zu sein. Der ruhige Ton des Romans macht die Geschichte über Verlust und Widerstand eindringlich. Das Buch überzeugt durch die genaue Wiedergabe der politischen Ereignisse der Zeit und besticht durch die glaubwürdige, berührende Familiengeschichte der Trina, in die der Leser unweigerlich hineingezogen wird.
Über den Autor:
Marco Balzano, geboren 1978 in Mailand, ist zurzeit einer der erfolgreichsten Autoren Italiens. Neben dem Schreiben arbeitet Bolzano als Lehrer für Literatur an einem Mailänder Gymnasium. Mit seinem Buch „Das Leben wartet nicht“ gewann er den Premio Campiello. Er lebt mit seiner Familie in Mailand.
Buchinformation:
Marco Balzano: „Ich bleibe hier“ Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Diogenes Verlag, Zürich 2020
ISBN 978 3 257 07121 4
Blogbeitrag teilen:
Weitere Beiträge:
textfan.de ist ein persönlicher Blog mit Buchrezensionen und selbstverfassten Texten. Alle Texte geben die private Meinung des jeweiligen Verfassers wieder.