Leid kann man nicht schmecken
Mir war heiß, ich war gestresst, drängelte mich durch die Masse und versuchte, eines der Schälchen mit Köstlichkeiten vom Thunfisch zu erobern. Ich reckte mich auf die Zehenspitzen und blickte über die Köpfe der Menge hinweg. Es musste mir doch gelingen, einen Imbissstand auszumachen, zu dem sich das Durchkämpfen lohnte. Immerhin hatte ich zwei Bons zu je zwei Euro in der Tasche und war fest entschlossen, meinen hungrigen Bauch mit Tatar vom Thunfisch, einem Salätchen oder einem Thunfischspieß zu füllen.
In Conil wurde die Ruta del atún – die Wanderung der Thunfische – gefeiert, ein Traditionsfest, mit dem die Fischer in jedem Jahr die Thunfischsaison eröffnen. Immer im Mai ziehen die großen Thunfischschwärme vom Nordatlantik ins warme Mittelmeer hinunter, um dort zu laichen. Wenn sie es schaffen, denn vor der andalusischen Küste warten die Fischer bereits mit ihren Stellnetzen, in deren Labyrinthen sich die großen, mächtigen Fische verfangen. Der Thunfischfang gehört zur Kultur Andalusiens, hatte ich gelesen. Im Reiseführer stand kein Wort über das, was den Tieren widerfährt.
Die Bewohner Conils hatten unzählige Zeltbuden auf dem Platz vor dem Torre de Guzman aufgebaut. In der warmen Mittagssonne strömten die Menschen aus den Gassen hinunter zum Platz, wie von einem unsichtbaren Sog gezogen. Das Dorf feierte – den Thunfisch und sich selber.
Ich wollte schon, verschwitzt und entnervt, aufgeben, als ich einen Mann sah, der mit ausladenden Gesten die Besucher an seinen Stand lockte. Er strahlte wie die andalusische Sonne und der Stolz des Koches blitzte aus seinen Augen. Ich verstehe kein Spanisch, doch alles an ihm ließ mich glauben, dass ich bei ihm die besten Tapas meines Lebens ergattern würde. Ich war wild entschlossen, mich zu dem Mann mit dem blütenweißen Hemd durchzuschlängeln und einen meiner Bons an ihn zu verlieren.
Wenig später stand ich mit Tapas, Bier und einem Problem in der lärmenden Menge. Wurde angeschubst und gerempelt. Anstatt in meinen Mund ergoss sich mein Bier über meine Hand. Wie sollte ich es, mit nur zwei Händen ausgestattet, schaffen, die Tapas in meinen Mund zu bekommen?
In Andalusien wird der Thunfisch nach einer traditionellen Methode, der Almadraba, gefangen. Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Wenn die Fangnetze aus dem Wasser gezogen werden, zappeln die Tiere um ihr Leben, japsen, schnappen nach Luft, ahnen, dass sie ihre Reise, ihren Auftrag nicht vollenden werden.
Früher töteten die Fischer ihre Beute mit Harpunen und Messern, qualvoll und blutig. Almadraba heißt übersetzt „Ort des Kampfes“ – ein seltsamer Kampf, bei dem nur einer gewinnen kann. Heute benutzen die Fischer Bolzenschussgeräte anstatt Harpune und Messer. Ein glatter Schuss in den Kopf löscht das Leben in den massigen, silbrig glänzenden Fischleibern. Die japanischen Kühlschiffe liegen bereits in einiger Entfernung zu den Fangnetzen an der Küste. Sie warten darauf, den begehrten roten Thunfisch unversehrt und fangfrisch in die Sushi-Bars und Schnellrestaurants der Straßen Tokios zu liefern.
Martina stand plötzlich neben mir. Der Himmel hatte sie geschickt. Sie erkannte mein Dilemma.
„Gib mal her.“ Dankbar gab ich ihr meinen Bierbecher und konnte nun endlich die köstlichen Thunfischstücke in meinen Mund schieben. Lecker, dachte ich.
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1 Kommentar zu „Leid kann man nicht schmecken“
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Eine starke Geschichte, die leicht beginnt und mich nachdenklich und doch auch versöhnlich zurücklässt.